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The ruins of Detroit

Es könnte sein, dass alles, was man auf diesen Bildern sieht, eine Lüge ist. Vielleicht die Kulisse zu einem Film, der eine amerikanische Industriestadt Jahre nach dem Atomschlag zeigt. Es könnte auch sein, dass diese Bilder wirklich die „Ruinen von Detroit“ präsentieren, eine Stadt die wir mit Henry Ford, dem Triumph des Kapitalismus, der Weltmacht USA – kurz: dem wahrgewordenen Traum in Verbindung bringen.
Wie Detroit heute aussieht, wie das aussieht, was von Detroit heute übrig ist – man müsste, um es treffend zu beschreiben, zu Vokabeln greifen, deren Gebrauch sich nicht ziemt. Genau SO sieht es aus! Auf knapp 230 Seiten und fast 200 atemberaubenden Bildern, die meisten großformatig, sämtlich farbig brillant, hervorragend gedruckt! Mal dramatisch, mal distanziert-dokumentarisch, und immer das Gefühl erzeugend, an den Orten der Aufnahme herrsche beißender Geruch. Dieses Buch taugt zur Bibel der Kapitalismuskritiker. Man hätte, als Pendant zu den Trümmern, die Kontostände der Detroiter Industriellen einblenden können. Aber das klingt schon zu sehr nach dem Dokumentarfilmer Michael Moore, der sich an diesem Thema bereits vor Jahren abgearbeitet hat. Der vorliegende Band spart sich die Aufregung. Nüchtern-elegant gestaltet hält er sich auch mit Wertungen zurück (wenngleich der Einleitungsessay des gebürtigen Detroiters Thomas J. Sugrue nicht frei von Sentiment ist). Er liefert Fakten über die Bauten, ihre Planer, die Entstehungszusammenhänge. Er könnte (vom monumentalen Format abgesehen) ein „Architekturführer Detroit“ sein. Würde er nicht ausschließlich Ruinen zeigen.
Was hinter diesen Bildern steht muß der Betrachter also selbst entschlüsseln. Ist Detroit ein Pompeji des Kapitalismus? Fehlt dieser Wirtschaftsform die Größe, ein Pompeji hervorzubringen (Pompeji war für seine Dekadenz bekannt)? Sieht nicht das Ruhrgebiet in Wahrheit auch aus wie Detroit, nur notdürftig übertüncht von Subventionitis und Kulturgetue?

Fünfzig Prozent Bevölkerungsschwund in fünfzig Jahren, knapp unter einer Million Menschen, die heute noch die Reste von Detroit bevölkern, irgendwo draußen im Sprawlgebiet in Fertighäusern sitzen, vor ihren Fernsehern Tiefkühlpizza und Cola XXL verzehren. Arbeitslosenquote: gut über dreißig Prozent. Interessant, dass es nach dem Jahr 2000 Ansätze zur Reurbanisierung des Zentrums gab, die nicht „Abriss“ hießen, sondern „Event“ (die Raverszene) oder „Gentrifizierung“ (billige Mieten in Büropalästen). Doch einer Stadt wie Detroit, die früher von der sozialen Schere geprägt war, fehlt heute die Klientel, die der schieren Größe dieser Immobilien Herr werden könnte. Abzusehen daher, dass irgendwann endgültig das Licht ausgeht.
Eine menschliche Seite scheint in den Denkmälern der freien Marktwirtschaft dennoch auf. Schulen, Kirchen, Bahnhöfe, Bibliotheken, errichtet für die Arbeiterschaft, erzählen vom Verantwortungsgeist, der die Moderne durchzog: Bildung für alle, Teilhabe am Wohlstand, Freizeit, Gesundheit, Licht, Luft, Sonne, diese Themen spiegeln sich auf zahlreichen Bildern. Das birgt die Gefahr der Romantisierung, die bei „Ruinen“ ohnehin notorisch gegeben ist. Es bietet aber auch die Möglichkeit, das Denkspiel dialektisch in die Zukunft zu treiben. Wenn diese Bilder vom Kapitalismus der 1920er bis zu seinem Niedergang nach 1960 erzählen – wie sehen dann die Ruinen der Globalisierung aus, die wir gerade produzieren?

15.02.2011

Christian Welzbacher
Marchand, Yves; Meffre, Romain. The Ruins of Detroit. Englisch. 200 S. 186 fb. Abb. Ln. Steidl Verlag, Göttingen 2010. EUR 88,00
ISBN 978-3-86930-042-9
 
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