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Istanbul

Andreas Herzau hat in New York (2003), Calcutta-Bombay (2005) und Deutschland "A Journey to the Germans" (2006) fotografiert und publiziert. Nun zeigt uns der „Straßenfotograf“ (so Herzau über Herzau) mit einem erstmals bei Hatje Cantz verlegten Band seine fotografische Sicht auf Istanbul: die Stadt als Schauspiel, ihre Straßen als mit Akteuren belebte Bühne – Bewegung, Bewegung überall, konstant.

So lernen wir sehen, wie der Fotograf die Menschen in dieser Stadt sieht, besser: wie er sieht, wie sie sich in dieser Stadt bewegen. Wir sehen, dass sich ihre Bewegungen durch verschwimmende Konturen manchmal verdoppeln, sodass sie uns fast zum Greifen nahe entgegenzukommen oder auch schemenhaft in der Ferne zu verschwinden scheinen – eine doppelseitige schwarz-weiß Aufnahme der von Reisenden durcheilten Vorhalle des Bahnhofs Haydarpascha ist ein besonders einprägsames Beispiel dieser Atmosphäre potenzierenden visualistischen Sicht auf das gewählte Objekt. Aber auch wenn Herzau seinen Gegenstand realistisch einfängt wirkt dies nicht statisch, lädt, beim genaueren Hinsehen zur Betrachtung und Reflexion ein: der Durchblick zwischen zwei Autos auf ein junges, hinter einer Brüstung auf das Marmara-Meer sehende Paar strahlt Ruhe aus. Da haben sich zwei von der Bewegung in der Stadt abgesetzt, ruhen von der Bewegung, vielleicht der Fahrt mit dem Auto, aus – und die sich nur leicht kräuselnden Wellen scheinen das zu bestätigen.

Mit diesen beiden dominierenden Gestaltungsprinzipien setzt Herzau all das ins Bild, was uns fremd, aber auch vertraut scheint oder ist: die Blaue Moschee bei Nacht, der Überwasserblick auf den Galata-Turm, die sich von anderen Großstädten unterscheidende Gesichtervielfalt Istanbuls - aber auch all jene Menschen-Gesichter, die nicht unbedingt als Istanbuler Spezifikum gelten können, in diesem Umfeld jedoch singulär-charakteristisch für diese Stadt wirken: neben Reichen auch Arme, Griesgrämige, Stolze, Erwartungsvolle, Arbeitende, Spielende, Stille …

Herzau ist kein Foto-Reporter, sondern Fotograf, seine Aufnahmen bilden keine Realität des ersten Blickes ab: hat bereits der Aufmarsch vieler Gasmasken tragender Polizisten etwas eminent Bedrohliches, so verstärken das unscharf-maskenhafte Gesicht eines Polizisten neben seinen Kameraden und ein fotografisch-kontrapunktisch auf einem Dach (mit einem Gewehr?) zu sehender Polizist das hier auf einer farbigen Doppelseite vermittelte Gefühl der Bedrohung. Wer aber bedroht hier wen und warum ? Wir wissen es nicht, müssen es vielleicht gar nicht wissen. Denn dieser fotografische Hinweis auf das auch Untergründige Istanbuls gibt, die allgegenwärtige klischeehaft-fotografische Vermarktung der Stadt relativierend, Raum für Fragen, dem Zweifel eine Möglichkeit. So öffnet uns Herzaus (unaufdringlich) aufklärerische fotografische Botschaft den Blick für die jenseits optischer Facetten liegende Vielschichtigkeit der Stadt und ihrer Menschen – und korrespondiert so mit den Impressionen der türkischen Schriftstellerin Elif Shafak, deren Istanbul-Essay diesen Fotoband einleitet.

Das farbige Einbandfoto zeigt sich im Wind bewegende, aufgeblasene, aber auch zerfetzt-schlaff herunterhängende Luftballons vor einer kantigen Marmarameer-Ufermauer mit sich dahinter kräuselnden Wellen - spielerisch-exemplarisch eingefangener Ausdruck der hier versammelten fotografischen Sichtweisen auf Istanbul? Und hinter diesem Einbandfoto: eine überzeugende, ambitioniert-einfühlsame und differenzierte Sicht auf diese Stadt. Ein Fotoband für Fotografieaffine, ein Bilder-Buch aber auch für nach-denkende Freunde und Kenner der Stadt.

02.08.2010
Wolfgang Schmidt
Andreas Herzau. Istanbul. Text v. Safak, Elif. 144 S., 80 fb. Abb. 27 x 29 cm. Gb Hatje-Cantz Verlag, Ostfildern 2010. EUR 29,80
ISBN 978-3-7757-2615-3
 
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