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Ernst Scheidegger fotografiert Le Corbusiers Planstadt Chandigarh

Fotograf, Filmemacher, Designer, Grafiker, Bildredakteur, Maler, Verleger, Galerist, Gründungsmitglied der Agentur „Magnum“. Kaum ein Medium, das dem Schweizer Ernst Scheidegger fremd war, kaum einen Weg, den er nicht beschritten hat. Der 1923 in Rorschach geborene Scheidegger besuchte von 1939 bis 1944 die Zürcher Kunstgewerbeschule, dann die Fachklasse für Fotografie, bald wurde er Assistent Max Bills mit einem Lehrauftrag an der legendären, dem Bauhaus verpflichteten Ulmer „Hochschule für Gestaltung“.

Von Anfang an will er sich nicht entscheiden: Es entstehen Reisereportagen für die Pariser „Magnum“-Agentur, Arbeiten für „Paris Match“, „Life“ oder den „Stern“, Plakat-Entwürfe und Ausstellungsgestaltungen. Seit 1960 arbeitet Scheidegger auch als Bildredakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“. Doch alle diese mit Freude angenommenen Verpflichtungen haben den Alleskönner nicht blind gemacht für die feinen Nuancen des künstlerischen Gestaltens. Freie Portrait-Arbeiten entstanden – an erster Stelle solche von Alberto Giacometti, mit dem Ernst Scheidegger eine lebenslange Freundschaft verbunden hat.
Doch auch als Architekturfotograf war Scheideggers Blick, wie Eberhard W. Kornfeld geschrieben hat, „geprägt vom Verständnis für die Situation und von tiefer Menschenkenntnis“. Dies zeigt jetzt ein wundervoll gestalteter, perfekt gedruckter Band, der im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen ist. „Chandigarh 1956“ illuminiert die Bautätigkeit Le Corbusiers an den Regierungsgebäuden der indischen Stadt Chandigarh, doch das Buch ist mehr als eine Dokumentation des Fortschritts der Bauarbeiten.

Immer wieder wirft Scheidegger einen tiefen, luziden Blick auf das Leben, die Lebensumstände der Menschen in Chandigarh. Genauso wie Le Corbusiers Architektur den Ideen einer heute eher umstrittenen architektonischen Moderne verpflichtet ist, so sind Scheideggers Schwarzweiß- und Farbbilder Dokumente ihrer Entstehungszeit, wie Verena Huber Nievergelt in ihrem Buchbeitrag skizziert.

Drei mal reiste Scheidegger während der Bauzeit in den Punjab, an den Rande des Himalaya – mit der Aufgabe, Fotografien für eine Buchreihe anzufertigen, welche die Bauideen der architektonischen Moderne einem breiteren Publikum zugänglich machen sollte. Zwar wurde diese Reihe nie publiziert, doch die Fotografien lassen noch heute staunen: Sie sind anmutige Bilder der Bauarbeiten an einer „perfekten Stadt“, Bilder der strengen Vision ihres Schöpfers Le Corbusier.

Für 500.000 Menschen seit 1951 geplant war Chandigarh ein überaus ehrgeiziges Projekt. Es sollte ein optimistisches Signal sein für den Aufbruch in eine neue Zeit – erst 1947 war Indien in die Unabhängigkeit entlassen worden. Chandigarh ist wie Brasilia eine Realität gewordene Plan-Stadt, ein Schachbrett aus 60 Rechtecken, ein graues, heute brüchiges Denkmal der Architektur-Moderne, in ästhetischer Hinsicht umstritten, aber auch in humaner: Heute erscheint die strickte Trennung der Lebens- und Arbeitsbereiche unverständlich.

Doch die Fotografien Scheideggers teilen den Optimismus des Architekten und zeigen in leuchtenden Farben Menschen bei der Arbeit an diesem Mammutprojekt: Menschen an der Schwelle in eine neue Zeit. Auch wenn wir den Fortschrittsoptimismus dieser Bilder heute kaum mehr nachempfinden können, so berauschen Scheideggers Fotografien immer noch – als Architekturbilder, die den Fokus nicht auf Mauern, sondern auf den Menschen selbst richten. Essays zur Geschichte und Bedeutung von Chandigarh runden einen Band ab, dem man schon heute zu den schönsten Fotobüchern des Jahres zählen kann.

03.07.2010




Marc Peschke
Chandigarh 1956. Le Corbusier und die Propagierung der architektonischen Moderne. Fotos v. Scheidegger, Ernst. Beitr. v. Moos, Stanislaus von /Huber Nievergelt, Verena. Hrsg. v. Moos, Stanislaus von. 160 S., 60 fb. u. 100 sw. Abb. 28 x 22 cm. Gb Scheidegger & Spiess, Zürich 2008. EUR 45,00 CHF 69,00
ISBN 978-3-85881-222-3   [Scheidegger & Spiess]
 
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