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Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht

Ein Buch ist zu loben, das als Ausstellungskatalog daherkommt und doch gleich nach den Grußworten viel mehr ist. Der kulturhistorische Tiefgang setzt sofort ein. Die Marksteine der Geschichte des Kreml werden in vielen, detailgenauen und doch nicht langweiligen Beiträgen nahegebracht. Beginnend mit dem 12. Jahrhundert, enthält die Historie des Kreml so ziemlich alle Träume und Alpträume der russischen Geschichtsdeutung. Erst nach dem zerstörerischen Tartarensturm, aber noch während der Herrschaft der Tartaren konnte sich der Kreml entfalten. Vom schlichten, befestigten Stadtkern entwickelte er sich zur Residenz des Großfürsten und des Metropoliten. Damit war der Weg des Kreml zu (den Buchuntertitel gebenden) "Gottesruhm und Zarenpracht" vorgezeichnet. Der Kreml war die steingewordene Ehrpreisung der höchsten Männer und Frauen im Lande - als er aus Stein war. Denn zunächst bestand der Kreml - noch gar nicht so weit entfernt von den Lebensumständen der Untertanen - aus Holzbauten. Von ewigerem Wert dagegen waren schon damals die Sammlungen von Gürteln, Geschirr, Ketten und die Aufbewahrung der wertvollen Kronhaube (die im Buch abgebildet ist!) - auch in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein Widerspruch, solche Schätze hinter Eichenholzmauern aufzubewahren.
Mit wachsender Bedeutung wurde aus dem Kreml eine mächtige Festung aus Steinquadern, in dessen Innern sich die Edelleute mitsamt ihrer Herrlichkeiten, derer es immer mehr wurden, schützen konnten. Es folgte der Wunsch nach prächtigeren Bauten. Ende des 15. Jahrhunderts war es soweit; Iwan III. holte sich russische Baumeister und italienische Architekten. Von nun an plante jeder Zar, seine Spur im Kreml zu hinterlassen, und in Umarmung mit den Kirchenoberen, die ihre Kathedralen bekamen und darin die Zaren krönten, entstanden die berühmten Wahrzeichen des Kreml.
Es wurde parallel zu den Bautätigkeiten gesammelt, viel mehr, als die Schatzkammern unterbringen konnten. Der Kreml war ein Sammelpunkt der Insignien der Macht, doch scheint er zudem von den Russen als stolzer goldener Punkt ihres herrlichen Landes wahrgenommen worden zu sein. Sonst wäre der Wunsch nach Wiederaufbau (besonders nach der Zerstörung durch Napoleon 1812) an gleichem Ort und gleicher Schönheit nicht von der Bevölkerung unterstützt worden. Zur Moskauer Stadtbevölkerung gehörte der Kreml ohnehin. Durch alle Jahrhunderte hindurch war er mehr oder weniger zugänglich - gar nicht mehr erst unter Stalin.
Nicht nur der Inhalt der Schatzkammern, der in diesem Buch in besten Photos gezeigt wird, ist für heutige Betrachter hochinteressant; auch das, was kein Zeitgenosse der Beachtung wert gefunden hätte, ist spannend. Archäologen haben Überreste des alten Kreml entdeckt, hölzerne Krüge etwa, die mit Birkenrinde umwickelt sind. Im Vergleich zu den verzierten Trinkkellen aus Gold wäre es heute fast leichter für uns, sich die Benutzung der älteren Gegenstände praktisch vorzustellen als die Verwendung dessen, was die Zaren späterer, uns näherer Jahrhunderte gebrauchten. Die Prachtgegenstände bleiben also auch in der Phantasie Anschauungsobjekte: Wie wundervoll erhalten, restauriert, gepflegt sie sind!
Eine gute, ganz neue Ergänzung sind CAD-Modelle; also am Computer erstellte Bilder, die eine räumliche Vorstellung ermöglichen. Da ist deutlich erkennbar, wie sich eine Art Palisadensiedlung zum Machtzentrum des Ostens entwickelt hat. Für die normal Sterblichen, die nicht an Ausgrabungen teilgenommen haben, ergibt sich so die Möglichkeit, die Entwicklung des Kreml genau vor sich zu sehen. Es ist schade, dass es im Buch nicht gelungen ist, die Modelle in enge Beziehung zu der Kunst der jeweiligen Epoche zu setzen (das wäre wohl eine eigene, große Forschungsaufgabe). Gerade die Ikonenmalerei könnte man dadurch einmal durch eine andere Brille sehen. Einige herrliche Ikonen sind im Buch zu betrachten, und es fasziniert, wie diese Kunst durch Abmalen, durch sonst wertminderndes Kopieren und Nachahmen an Ausdruck gewinnt. Die mystische, religiöse Strahlkraft, die von ihnen ausging, lässt sich beispielsweise an der Ikone "Grabniederlegung des Herrn" in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale, der ältesten dieser Darstellung, erspüren.
Doch "Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht" bietet noch mehr Perspektiven. Etwa die Wahrnehmung des Kreml von außen. Frank Kämpfer erzählt in seinem Beitrag von dem Erstehen des Kreml in schriftlichen Quellen. Zuerst 1517 in Krakau und dann 1518 auf deutsch in Augsburg berichtet ein polnischer Gelehrter über 17 mit Dachziegeln gemauerte Kirchen. 30 Jahre später arbeitete ein Abenteurer aus Ahlen in Westfalen als Dolmetscher bei Zar Iwan dem Schrecklichen und schrieb der Nachwelt folgenden Satz ins Stammbuch: "Wer nahe am Großfürsten war, der verbrannte sich, und der ferne von ihm war, der erfor." Die kolorierten Zeichnungen und Stiche, die den Kreml im 18. Jahrhundert zeigen, geben erstmals ein lebendiges Bild vom Leben in und um den Kreml. Von da aus geht es rasch zu den bekannteren Phasen der Zarenzeit, zu der Regentschaft von Katharina der Großen und von Peter dem Großen und damit zu den Ölbildern des frühen 19. Jahrhunderts.
Wie ein Orkan fegt die Photographie das Bild, das man sich nun über die Jahrhunderte vom Kreml in diesem Buch machen konnte, einfach weg. Natalia W. Aserko stellt eine Auswahl an Photos vor, von denen der Blick auf den Kreml vom Kokorew-Hof mit Pferdegespann im Vordergrund das wohl eindrücklichste ist. Nichts trübt die Begeisterung für dieses Buch, für seine Texte und Bilder.
Mareile Herbst
Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht. Kataloghandbuch. Beitr.: P. Nitsche, E Kämpfer, W. von Scheliha, J. G. Garanina, E. A. Morschakowa, A. W. Graschenkow, L. N. Peschechonowa, 1. A. Bogatzkaja, 0. 1. Muronowa, T. D. Panowa und 1. A. Schurawljowa. 336 S. 450 Abb. 28 cm. Pb Hirmer, München 2004. EUR 33,80
ISBN 3-7774-2035-2
 
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