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Die Beine der Hohenzollern

Aus der Schwemme an "Berlin"-Literatur, die zum Thema Kunst und Kultur in der Hauptstadt innerhalb der letzten zehn Jahre erschienen ist, ragt das kleine, aber fein gemachte Büchlein mit dem zweideutigen Titel "Die Beine der Hohenzollern" löblich heraus. Die äußerst kenntnisreich gearbeitete und lektorierte Publikation rankt sich um vier wohlbekannte, da von Kaiser Wilhelm II. kommentierte Aufsätze von Zöglingen des altehrwürdigen und kaisertreuen Joachimsthalschen Gymnasiums in Berlin zum Thema "Die Beinstellung der Denkmäler in der Siegesallee". 1901 im Frühjahr, kurz nach Einweihung der sogenannten Siegesallee im Berliner Tiergarten, wurde den Oberprimanern abverlangt, über die 33 Fürstenstandbilder der Denkmalanlage und die Frage, inwieweit die figurale Auffassung der Steinskulpturen den Charakter der Hohenzollernherrscher wiedergebe, zu sinnieren. Die Pennäler lösten die gestellte Hausaufgabe, indem sie ihre an antiken Bildwerken eingeübten Beobachtungskriterien für die Beschreibung nutzten und das im Geschichtsunterricht Gelernte auf die Standbilder projizierten. Berühmtheit erlangten vier der Schüleraufzeichnungen, weil diese dem Initiator der Siegesallee, Kaiser Wilhelm II., zugespielt wurden und dieser sie mit Randbemerkungen versah. Aus den harmlosen Schulaufsätzen waren somit Dokumente mit staatspolitischer Bedeutung geworden, die in der Erziehungsanstalt hoch verehrt, deren angefertigte Faksimiles aber im Archiv zu verschwinden hatten. In dem von Helmut Caspar herausgegebenen Bändchen sind nun diese Aufsätze mit den Lehrer-und Kaiserkorrekturen komplett abgedruckt. Der Herausgeber hat die Quellen nicht nur sorgfältig neu ediert, sondern auch Entstehung, Geschichte und Schicksal der Siegesallee sensibel und kurzweilig dargelegt. Alle ihre 32 monumentalen Gruppen sind in alten Fotoaufnahmen abgebildet. Biographische Notizen zu den in Stein gehauenen Herrschern, Kirchenmännern, Geistesgrößen, Literaten und Musikern sowie zu deren Bildhauern sind beigegeben. Quellenedition und Kommentierung ermöglichen einen unverstellten Blick sowohl auf das Selbstverständnis des Kaisers als höchste Kunstinstanz des Reiches und auf die Prägung des humanistisch gebildeten Nachwuchses durch das alle Lebensbereiche durchdringende Preußentum als auch auf die Gefühlslage von kritischen Zeitgenossen, die mit Spott über die Anlage urteilten. Den Part des bissigen Kommentators übernimmt in dem Buch Dieter Hildebrandt, dienstältester deutscher Fernsehkabarettist. Das Ansinnen des Bearbeiters, mit der Publikation ein Plädoyer für die angemessene Unterbringung der Überreste der Siegesallee als aussagekräftige Bildzeugnisse der wilhelminischen Ära vorzulegen, ist bestens gelungen.
Annette Scherer
Die Beine der Hohenzollern. Interpretiert an Standbildern der Siegesalle in Primaneraufsätzen aus dem Jahre 1901, versehen mit Randbemerkungen Seiner Majestät Kaiser Wilhelm II. Berlin Vorw. v. Hildebrandt, Dieter. Hrsg.: Caspar, Helmut. 2001. 128 S., 47 Abb Kt Euro 9,20
ISBN 3-8148-0086-9
 
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