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Michelangelo

Kunstgeschichte als Bildungsakt
Horst Bredekamps Michelangelo

Im Überschwang ihrer eigenen Emphatie, Passionen und Begabungen neigten und neigen gerade heutige KunsthistorikerInnen berufsmässig dazu, sich an der Überfülle überlieferter und dem Reichtum ihrer selbst gewonnen Erkenntnisse zu berauschen. Eine Distanz zur Geschichte der eigenen Bildungsgeschichte ist Horst Bredekamp dagegen nicht unbekannt. Statt wie vielfach in der Vergangenheit der Michelangelo-Forschung vor den Meisterwerken des Künstlers ein Feuerwerk der Verehrung abzubrennen, gelingt es Bredekamp die Dialektik zwischen subtil gesteigertem Erkenntnisanspruch und gleichzeitig eingelöster kunsthistorischen Bildungsemphatie erkennbar und nachvollziehbar zu machen. Tradierte Begriffe wie Schönheit und Genie werden dabei vom Autor entweder vermieden oder ergeben sich höchstens in den unterschiedlichen Kontexten von zusätzlichem Wissen.

"...durch die Augen in das Herz..." heißt es in einem Gedicht Michelangelos. Auch für Bredekamp selbst könnte dieses als Motto seines faszinierenden Unternehmens gegolten haben. Nie erschien dem Rezensenten die Lektüre eines buchstäblich großen kunstwissenschaftlichen Werkes zugleich leichter und schwieriger. Das hat seine Gründe, die Bredekamp unter anderem mit der Formel eines Gegensatzes zwischen "Panemphatie und proteischem Eros" zu bannen versucht und der in immer neuen Erkenntnisschüben das Textgebirge durchscheint. Noch nie wurde Kunstanschauung gleichzeitig so lehrreich-diskursiv wie körperlich-präsent in Echtzeit vor den Augen der Anteil nehmenden BetrachterInnen entfaltet. Bredekamps "Michelangelo" ist mehr als das Portrait dieses Jahrtausendkünstlers; es grenzt in seiner Gegensätzlichkeit aus detaillierter Forschung und der Unwahrscheinlichkeit seines Gelingens an so etwas Ähnliches wie ein Wunder, indem sich Geschichte und Politik, Kunstrezeption und Kulturgeschichte, Psychoanalyse und Selbstbildung in immer neuen Wendungen überkreuzen und die LeserInnen in aktive TeilnehmerInnen verwandeln.

Je intensiver und detaillierter Bredekamp den LeserInnen Schritt für Schritt die komplexe Werkgenese einzelner Hauptwerke Michelangelos vor Augen führt und dabei Chronologie mit den spezifisch historischen Situationen und ästhetischen Problemen der damaligen Zeit einander überblendet, umso mehr erkennen wir Heutigen auch die Dimensionen aktueller Michelangelo-Forschung. Bredekamp gelingt dabei selbst etwas nicht unbedingt Neues aber formal etwas Mustergültiges: eine sachliche Beschreibung und eine passionierte Deutung in ihrer Gleichzeitigkeit so wahrnehmbar zu gestalten, so, dass aus Anschauung eine zeitbedingte Erkenntnis und damit die Möglichkeit eigener Selbstbildung entstehen kann. Hiermit steht Bredekamp durchaus in der Tradition von Martin Warnke, bei dem Bredekamp vor annähernd 50 Jahren promovierte.

Bredekamps "Michelangelo" gelingt es so auf raffiniert sachliche und ebenso gebildete Weise die Unwahrscheinlichkeit von Michelangelos Begabungen in die Wahrscheinlichkeit von kultureller Selbst-Aufklärung zu verwandeln - so wie sie uns heute in den Werken des Meisters überliefert sind und damit an einer Weltkunstgeschichte mitgeschrieben haben. Darüber hinaus ist dieser 800seitige Band in seiner atemberaubend guten Druckqualität eher zu einem Buch-Ereignis als zu einer Veröffentlichung geworden.
So wie Michelangelo lebenslang Werke schuf, die heute als Ikonische wie zeitlos wirken obwohl sie von Geschichten durchtränkt sind, wird es immer Bücher geben, die ihrerseits Geschichte machen und dabei unsere Ansprüche an die Selbstbildung höher schrauben. Bredekamps „Michelangelo“ wird dazu gehören.

16.08.2021

Michael Kröger
Michelangelo . Bredekamp, Horst . 816 S. 790 farb. Abb. 28 x 21 cm. Leinen . Wagenbach Verlag, Berlin 2021. Bis 31. 12. 2021 EUR 89,00, danach EUR 118,00.
ISBN 978-3-8031-3707-4
 
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