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Tilman Riemenschneider

Anlässlich der Neugestaltung des Riemenschneider-Saals im Bayerischen Nationalmuseum erscheint das von Matthias Weniger verfasste Buch zu den Werken Tilman Riemenschneiders im Bayerischen Nationalmuseum. Der Saal, der seit 1949 der Präsentation der Werke Tilman Riemenschneiders gewidmet war, zeigt sich heute in einem neuen einheitlichen Erscheinungsbild. Neben einem frischen Raumanstrich, der Sanierung der Fenster und der Erneuerung der Elektrik wurden kunstvolle Objektbeleuchtungen, einheitliche Sockel und Vitrinen geschaffen, deren Innenbeleuchtung es ermöglicht, die Skulpturen in ähnliches Licht zu tauchen, wie es ihrem ursprünglichen Aufstellungsort entsprochen haben könnte. Alle Ausstellungsobjekte erfuhren vor der Neuaufstellung eine konservatorische Behandlung oder gar Restaurierung. Die bedeutendste Restaurierung innerhalb der Aufstellung wurde an dem Retabel aus der Johanniskapelle in Gerolzhofen vorgenommen. Eine Besonderheit stellt die Präsentation der lange nicht ausgestellten Stifterscheiben aus der Kartause Prüll bei Regensburg ( um 1500) dar, die dem Raum eine sakrale Anmutung geben und das Licht des dahinter befindlichen Fensters scheinbar einfangen, tatsächlich aber durch Kunstlicht hinterleuchtet werden.
Matthias Wenigers Buch ist kein Bestandskatalog im herkömmlichen Sinne, sondern ein umfassendes Werk zu Tilman Riemenschneider und seinen Werken unter besonderer Berücksichtigung der Skulpturen im Bayerischen Nationalmuseum. Auf den ersten Blick begeisternd ist die Gestaltung des Buches mit seinen zahlreichen Farbabbildungen, von denen ein Großteil vom Autor selbst gemacht wurde. Sie zeigen nicht nur die Skulpturen im Bayerischen Nationalmuseum, sondern auch diverse andere Riemenschneider-Werke und Vergleichsbeispiele. Die Objekte werden aus verschiedenen Blickwinkeln, inklusive der sonst selten sichtbaren Rückseiten, und in diversen Details abgebildet. Besonders in den Seitenansichten wird deutlich, wie erstaunlich flach viele der Skulpturen sind und entsprechend ausschließlich für die frontale Betrachtung innerhalb eines Retabelschreins bestimmt waren. Die Umschlaggestaltung mit den wunderbaren Detailfotos von der heiligen Barbara auf dem Titelblatt und auf der vorderen Klappe sowie der Rückenansicht der hl. Afra auf der Rückseite lässt den Wunsch nach einem „Prachtband“ in Form einer Hardcover-Ausgabe aufkommen.
Die Einleitung beschäftigt sich mit dem Phänomen Riemenschneider und der Geschichte der Riemenschneider-Sammlung im Bayerischen Nationalmuseum sowie der Aufstellung der Skulpturen seit den Anfängen der Sammlung im Jahr 1890 bis hin zur Neuaufstellung von 2016. Daran schließt sich eine Zeittafel mit den Lebensdaten Riemenschneiders an.
In dem reich und detailliert bebilderten Katalogteil werden die Werke in einzelnen Kapiteln ausführlich vorgestellt und in ihrer kunsthistorischen Bedeutung und ihrem Kontext im Gesamtoeuvre Riemenschneiders gewürdigt. Angaben zu Material, Maßen und Zustand sowie zur Provenienz der jeweiligen Objekte leiten die Katalognummern ein, auf Anmerkungen wurde verzichtet. Zudem finden sich Beiträge der Restauratoren Axel Treptau zur ursprünglichen Farbgestaltung der Zwei Gruppen aus einer Kreuzigung Christi und Rudolf Göbel zur ursprünglichen Farbgestaltung des Münnerstädter Magdalenenretabels sowie zur Restaurierung des Gerolzhofener Retabels im Anschluss an die kunsthistorische Einordnung der jeweiligen Werke.
Matthias Weniger gelingt es, auch bei den schon vielfach in der kunsthistorischen Literatur besprochenen Werken neue Vorschläge zur stilistischen Einordnung und Datierung zu machen sowie auf teils wenig bekannte Quellen zu verweisen.

Bei der Rekonstruktion des ehemaligen Passionsretabels, (früher bekannt als „Wiblinger Retabel“) das er um 1490 datiert und dem die Zwei Gruppen aus einer Kreuzigung einst zugehörten, spricht er sich überzeugend dafür aus, dass es sich bei dem Kruzifixus aus der Heroldsberger Pfarrkirche um das fehlende zentrale Mittelstück handeln könnte (diskutiert wird auch der Kruzifixus in Graz, Barmherzige Schwestern vom hl. Vincenz von Paul, Klausur). Die Fragmente aus der Predella eines Passionsretabels in der Berliner Skulpturensammlung hält er hauptsächlich aufgrund restauratorischer Befunde für die fehlenden Predellenskulpturen. Aus stilkritischer Sicht ist diese Zuordnung nicht zuletzt aufgrund des schlechten Erhaltungszustands des Predellenfragments mit den männlichen Figuren nicht ganz leicht nachzuvollziehen. Ergänzend zu der häufig geäußerten Meinung, das Kreuzigungsretabel stamme aus der Rothenburger Franziskanerkirche schlägt Weniger auch die tatsächlich naheliegende mögliche Herkunft aus dem Dominikanerinnenkloster in Rothenburg vor, für welches ein Corpus Christi-Retabel dokumentiert ist und in welchem sich auch weitere Gemälde des Rothenburger Malers Martinus Schwarz befanden, der nachweislich das Passionsretabel gefasst hatte.
Die Rekonstruktion des Münnerstädter Magdalenenretabels (1490-92), dessen zentrale Schreingruppe mit der von Engeln zur himmlischen Speisung getragenen Maria Magdalena sowie eines der Flügelreliefs aus der Sammlung Bollert sich im Bayerischen Nationalmuseum befinden, zeichnet sich durch eine Neuanordnung der Engel um die Magdalenenfigur aus. Die drei jeweils zusammengehörigen Engelspaare, heute wieder mit den barocken Ergänzungen von Flügeln und Händen, weisen Unterschiede in Größe, Tiefe und in der Sorgfalt der Bearbeitung auf. Entgegen vorheriger Rekonstruktionen ist jetzt das größte und am feinsten gearbeitete Engelspaar als am deutlichsten sichtbar zuunterst angeordnet. Alle Engelspaare wurden näher als zuvor an die Figur der Maria Magdalena herangerückt, was besonders unter dem Aspekt Sinn macht, dass die Engel die Heilige emporhoben.
Schade ist es, dass das Relief mit der Fußwaschung aus dem Münnerstädter Retabel bei der Neuaufstellung nicht in den Riemenschneidersaal aufgenommen wurde. Auch wenn die ehemalige Sammlung Bollert im Bayerischen Nationalmuseum an anderer Stelle gezeigt wird, wäre es doch schön, wenn man die zusammengehörigen Objekte eines Retabels auch gemeinsam ausstellen würde.
Der Reliquienbüste eines jugendlichen Heiligen (um 1500, Leihgabe Sammlung Böhler) hat die Reinigung und Konservierung zu einem anderen und glanzvolleren Erscheinungsbild verholfen, erst jetzt tritt deutlich vor Augen, dass hier eine Silberschmiedearbeit imitiert wurde.
Die zwölf Apostel aus der Blütezeit der Riemenschneider-Werkstatt erfahren sowohl durch ihre Neuanordnung im Saal als auch durch die gelungene bildliche Präsentation im Katalog eine ganz neue Würdigung. Waren sie bislang oktogonal angeordnet und gingen die einzelnen Figuren in der Masse etwas unter, zeigt sich in der Reihung der Apostel nebeneinander die Qualität der einzelnen Figuren viel deutlicher. Ob diese Art der Aufstellung tatsächlich der ursprünglichen entspricht, lässt Zweifel offen. Demnach hätten sich die Figuren in einer sehr breiten Predella eines Retabels befunden, in der die flacher gehaltenen Apostelpaare sich mit den plastischer gearbeiteten Einzelfiguren von Johannes Ev., Petrus, Jakobus d.Ä. und Andreas abgewechselt hätten. Als Vergleichsbeispiel führt Weniger das aus der Nürnberger Wolgemut-Werkstatt stammende Hochaltarretabel in der Zwickauer Marienkirche an.
Schön ist es, dass mit dem vorher im Zweigmuseum in Kronach ausgestellten Schmerzensmann aus der Zeit um 1500/10 auch ein Steinbildwerk Tilman Riemenschneiders Eingang in den Riemenschneider-Saal gefunden hat.
Bei dem wunderbaren Sebastian, den Weniger sehr spät, in die Zeit um/nach 1505, datiert, kann der Autor überzeugend die Verbindung zu der Skulptur des Hl. Rochus in der Filialkirche in Mühlendorf bei Bamberg herstellen. Auch die Sebastiansfigur befand sich einst dort und wurde 1911/12 von dem zuständigen Pfarramt Stegaurach verkauft. Weniger vermutet, dass beide Skulpturen aus dem nahen Bamberg nach Mühlendorf gelangt waren, womit die in der Literatur hartnäckig verankerte Herkunft des Sebastians aus dem Kloster Zell bei Würzburg in Frage gestellt wäre. Die Überlegung, dass der Hl. Sebastian und der Hl. Rochus aus demselben Retabel stammten, ist angesichts der stilistischen Gemeinsamkeiten beider Figuren überzeugend. Umso erstaunlicher, dass der Hl. Rochus in der kunsthistorischen Literatur bisher so stiefmütterlich behandelt wurde.
Das Retabel aus der Johanniskapelle von Gerolzhofen (im Katalog zwischen 1513 und 1519 datiert) ist das einzig erhaltene farbig gefasste Retabel aus der Werkstatt Tilman Riemenschneiders. Wie Rudolf Göbel darlegt, ist die Ausmalung des Schreinkastens nicht mehr original, sondern zeigt die Gestaltung des 19. Jahrhunderts. Ursprünglich fand sich an der Rückwand im Schreinkasten ein in Pressbrokat ausgeführter Vorhang, über dem sich ein blauer mit Papiersternen geschmückter Himmel erhob. Auf der Rückseite der Predella ist die Jahreszahl 1519 eingeritzt. Leider hat sich das Gesprenge mit einem Kruzifixus und den Figuren der Heiligen Georg und Kilian nicht erhalten. M. Weniger hält es für möglich, dass einer der Kruzifixe im Museum Johanniskapelle in Gerolzhofen das verloren geglaubte Stück sein könnte. Im Katalog werden neben dem Schrein und den Flügelreliefs erstmals die Gemälde auf den Standflügeln, der Rückseite der beweglichen Flügel und der Predella angemessen reproduziert und sichtbar gemacht. Die detaillierten Fotos dieser Gemälde sind umso verdienstvoller, als man im Museumsraum zwar rund um das Retabel gehen kann, aber die Gemälde mangels geeigneter Lichtquellen nur schlecht zu sehen sind. Wenigers Ausführungen zu den Flügelgemälden zeichnen sich durch den Versuch aus, sie geographisch zu verorten. Er sieht in den Gemälden neben Renaissancemotiven Elemente der Donauschule und stellt „eine vage Nähe“ (S. 180) zu dem im Mainfränkischen Museum befindlichen Flügelgemälde mit den Heiligen Agatha und Dorothea vom Hochaltar der Pfarrkirche von Gerolzhofen.
Dass die heute im Schrein des Gerolzhofener Retabels aufgestellte Sebastiansfigur nicht zum Originalbestand gehört, wie Rudolf Göbel erwägt, ist aus stilistischen Gründen offensichtlich. Wahrscheinlicher ist die einstige Aufstellung einer Wolfgangsfigur, wie sie ein Visitationsbericht des Gerolzhofener Kapitels von 1611 erwähnt. Für die Predella schlägt Weniger eine breit konzipierte Beweinungsszene vor, die gut zu dem einst mit Papiersternen geschmückten Hintergrund passen würde, der eine in der Mitte ansteigende Komposition nahelegt. Warum in der Neuaufstellung das Relief einer Maria im Wochenbett, schwäbisch um 1520, den Platz in der Predella einnimmt, ist für den Betrachter unverständlich.
Der Katalog schließt mit einer kurzgehaltenen Auflistung und Abbildung der heute im Zweigmuseum Fränkische Galerie auf der Festung Rosenberg in Kronach aufgestellten Figuren Tilman Riemenschneiders und seiner Werkstatt und einiger weiterer Werke, die in Zusammenhang mit Tilman Riemenschneider gebracht werden können.
Insgesamt stellt Matthias Wenigers Katalog nicht nur vom wunderbaren Bildmaterial eine Bereicherung der Literatur über Tilman Riemenschneider dar, sondern gibt auch zahlreiche neue Denkanstöße zu den Skulpturen.
Leider werden die immer wieder erwähnten graphischen Vorlagen nicht abgebildet, die zwar den Kunsthistorikern geläufig sein dürften, aber für den interessierten Laien beim Nachvollziehen der Vorbild-Abbild-Problematik sicher hilfreich wären.
In der Ausstellung selbst wäre die ein oder andere Informationstafel zum ursprünglichen Aufstellungskontext der spätmittelalterlichen Figuren schön gewesen, doch ginge damit vielleicht die sakrale Anmutung des neuen Riemenschneider-Saals verloren.

15.03.2017
Iris Kalden
Tilmann Riemenschneider. Weniger, Matthias. Hrsg.: Eikelmann, Renate; Bayerisches Nationalmuseum. 208 S. 315 fb. Abb. 29 x 23 cm. Engl. Br. Imhof Verlag, Petersberg 2016. EUR 24,95. CHF 28,70
ISBN 978-3-7319-0475-5   [Michael Imhof]
 
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