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Reichenauer Buchmalerei

„Aus der Zeit von 850-1070 n. Chr. sind so viele Prachthandschriften aus dem Inselkloster Reichenau erhalten wie aus keiner anderen Schreib- und Malschule Europas. Das Buch schildert die Geschichte der Wiederentdeckung der Reichenauser [sic!] Buchmalerei und stellt dann in je einem charakteristischen Bild (in einem Ausnahmefall deren drei) und Erläuterung jede der 58 Prachthandschriften vor, über deren Reichenauer Herkunft weitgehend Einigkeit besteht.“ (Text auf der Umschlagrückseite des Buches).

Das Werk ist eigentlich nur ein Katalog, denn es gibt keinen wirklichen Haupttext, sondern „nur“ eine überraschend kurz geratene „ Einführung“ mit folgenden Abschnitten: WIEDERENTDECKUNG (S. 8-23 mit zwölf Vergleichsabbildungen in s/w), AUFGABEN (S. 24), THEMEN (S. 24), FORMATE (S. 24-25), EMPFÄNGER (S. 25), BESTIMMUNGSORTE (S. 25), SCHREIBER UND MALER (S. 26-29), DIE ROLLE DER ÄBTE (S. 30-32). - - LITERATUR (S. 33-41), SIGLEN UND ABKÜRZUNGEN (S. 41). - - Rund 75% des Buches nimmt der Katalog ein: DIE HANDSCHRIFTEN (S. 42-159, jeweils links Bild, rechts Text u. Anmerkungen) -- [Register] (S. 160): SCHREIBER/MALER UND STIFTER / WIDMUNGSEMPFÄNGER; ABBILDUNGSNACHWEISE. Vergeblich sucht man ein Standortregister der Aufbewahrungsorte, auch ein Namenregister wäre wünschenswert.

Damit wendet sich das Buch fast nur an Wissenschaftler. Im Kontrast dazu sind jedoch die Bild-Beschreibungen sehr gut nachvollziehbar, sogar gelegentlich um Worterklärungen bemüht (z. B. S. 51 Perikopenbuch, Kasel, Dalmatik etc.). Die Lektüre dieser Beschreibungen dessen, was man in den Abbildungen sehen kann, ist ein Genuss! Angenehm ist auch, dass, wenn lateinische Texte transskribiert wiedergegeben werden, auch deren Übersetzungen folgen. Es wird vorausgesetzt, dass der Leser brav eine Seite nach der anderen liest, dennoch helfen viele Verweise auch dem, der irgendwo in die Lektüre einsteigt. Nicht unerwähnt bleiben sollen die mit insgesamt 351 Anmerkungen reichlichen Hinweise auf die Literatur und aktuelle Fragestellungen.

Durch alle Texte des Bandes ziehen sich die Fragen nach der Datierung und der Autorschaft der Kunstwerke. Die beiden Autoren des vorliegenden Buches, Professoren und seit Jahrzehnten ausgewiesene Kenner der Materie, folgen diesen Fragen genau so wie jene Wissenschaftler, die sie im ersten, dem forschungsgeschichtlichen Abschnitt auftreten lassen. Bei der Autorenfrage spielen die verschiedenen in über hundert Jahren vorgeschlagenen Gruppenbildungen eine große Rolle. Alle Texte (auch jene im chronologisch aufgebauten Katalog) sind namentlich mit „W.B.“ oder „U.K.“ gezeichnet. Mit Recht weist Prof. Kuder auf die Schwierigkeit hin, die Gruppenzugehörigkeit nur anhand motivischer Übereinstimmungen einteilen zu wollen, ohne die stilgeschichtlichen Kriterien zu beachten (S. 21).
Kurios genug, kann Kuder auch feststellen, dass die Frage nach dem Ursprungsort „Trier oder Reichenau“ beim „Egbert-Codex“ nunmehr so gelöst zu sein scheint, dass der zumindest zeitweise in Trier arbeitende „Meister des Registrum Gregorii“ (Gregormeister) zusammen mit den beiden kurzzeitig in Trier weilenden reichenauer Mönchen Keraldus und Heribertus von Trier auf die Insel gereist sein wird, um auf der Reichenau die Prachthandschrift in einer Gemeinschaftsarbeit von Schreibern und Malern herzustellen (S. 23 U.K. und S. 87 W.B.). Erwogen wird dabei auch, ob nicht noch ein zweiter Trierer Schreiber mitreiste.

Gern stellt man sich danach vor, wie es in den Jahren „um 977/993“ (= Datierung des Codex entsprechend der Regierungszeit Erzbischof Egberts von Trier) oder „um 980“ (Berliner Epistolar, S. 89) auf der Insel nur so gewimmelt hat von Buch-Malern und -Schreibern. Das wäre sogar nicht ganz unwahrscheinlich, wenn die Datierungen des Katalogs verlässlich sind, denen zufolge von den 58 hier vorgestellten Handschriften allein in den zehn Jahren 970 bis 980 neunzehn Werke entstanden – diese Dichte ist einmalig, wohl nicht nur in diesem Katalog, sondern überhaupt bei einer einzelnen frühmittelalterlichen Malerschule.

Nebenbei sei festgehalten, dass Berschin und Kuder es vermeiden, eigene Gruppenbildungen vorzuschlagen. Irgendwie ist das Bedürfnis zur Gruppenbildung im Jahr 2015/16 auch „uncool“ ...

Etwas bedauerlich ist die Themen-Stellung bzw. -Abgrenzung des Bandes: Mir fehlen z. B. Vergleichs-Abbildungen von Handschriften der Zeit vor 850, etwa karolingische Prachthandschriften (z. B. erwähnt auf S. 51): Wie steht es um die „Buchmalerei“ auf der Reichenau vor 850? Dort besaß man illuminierte Handschriften – aber wirklich nur auswärts hergestellte wie in Fulda und Mainz oder „oberitalienische“? Bei der Anlage und Themenstellung des Buches verboten sich bildtypologische Vergleiche, wie sie etwa Erdmann (Wolfgang Erdmann: Die Reichenau -- Geschichte und Kunst, Königstein i. Ts. 1993 / [zuletzt] 2004) am Beispiel der Veränderungen in den reichenauer Darstellungen des Marientodes und des Weltgerichts vorgeführt hat. Dergleichen wird nur eingangs rudimentär angedeutet (S. 10, 14, 17f.). Also ein Ansatz, der die kirchengeschichtlich interessanten Aspekte der Werke wenigstens kurz andeutet, etwa unter der Frage, inwiefern die Reformbestrebungen jener 220 Jahre von 850 bis 1070 sich in der Behandlung der Motive durch die Buchmaler spiegeln.

Gelegenheit dazu hätte sich freilich geboten z. B. beim Widmungsbild des Aachener Ottonen-Evangeliars (# 26, S. 93), hier nurmehr apostrophiert als „Liuthar-Evangeliar“ und „um 990/1000“ datiert. Da thront einer in einer Mandorla wie sonst nur Christus – aber es ist der Kaiser und nicht Christus. Zwei Generationen später, 1070, ist der schwelende Investiturstreit voll ausgebrochen, das antike „Kaiser und Gott“ war dann wieder einmal in Verruf geraten. Dergleichen mitbedenken zu können setzen die Autoren beim Leser voraus.

Die Forschung ist zur Zeit ganz besonders im Fluss, paläographische Untersuchungen laufen oder harren der Veröffentlichung, daher kann gerade dieses Buch nur eine Momentaufnahme bieten. Wünschenswert wäre deshalb nicht nur eine baldige aktualisierende und ggf. erweiterte Neuauflage, sondern ein umfassenderer Ansatz, der einerseits alle „Reichenauer Bildkünste“ (Erdmann 2004, S. 36-54) in den Blick nimmt, also auch die Wandmalerei und die Goldchmiede- evtl. Elfenbein-Arbeiten einbezieht, andererseits die motivisch-politischen Hintergründe wenigstens andeutet. Auch zeitgleiche Arbeiten in anderen Orten sollten etwas deutlicher ins Gedächtnis gerufen werden.

Das anscheinend (da entsprechende Danksagungen fehlen) ohne Fördermittel auskommende Buch weist etliche kleinere Fehler auf, die aber nach meiner Einschätzung kaum sinnentstellend sind; die Qualität der Abbildungen ist (bei den genannten Voraussetzungen möchte man sagen: naturgemäß) schwankend.

Obzwar leider immer noch keine aktuelle umfassende Darstellung der Reichenauer Buchmalerei (geschweige denn der „Reichenauer Bildkünste“), ist der vorliegende Band unbestritten ein äußerst nützliches und verdienstvolles Nachschlagewerk besonders für Fachleute, aber auch für Liebhaber.

29.03.2016
Hans-Curt Köster
Reichenauer Buchmalerei 850-1070. Berschin, Walter; Kuder, Ulrich. Deutsch. 160. 72 meist fb. Abb. 30 x 21 cm. Gb. L. Reichert Verlag, Wiesbaden 2016. EUR 39,90.
ISBN 978-3-95490-129-6   [L, Reichert]
 
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