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Hundert Jahre Deutscher Werkbund

Lange vor Jürgen Habermas faßten um 1900 einige Architekten, Künstler und Industrielle die Moderne als ein zu vollendendes Projekt. In den Blick kamen negative Auswirkungen der industriellen Moderne wie abnehmende Produktqualität. Um eine Trendwende, auch im zunehmend fordistisch geprägten Produktionsprozeß, einzuleiten, schlossen sich 1907 Vertreter aus Industrie, Architektur und Kunsthandwerk vor 109, dem Gründungsaufruf folgenden, Gästen in München zum Deutschen Werkbund (DWB) zusammen. Ziel war es, gewerbliche Produkte durch ein Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk zu verbessern. Im Mittelpunkt stand die Suche nach einer neuen, durch Zweck, Konstruktion und Material bedingten Formgebung, die auf technische wie ästhetische Qualität, im Gegensatz zum vorgefundenen industrialisierten Kunstgewerbe, setzte. 1908 hatte der DWB bereits 429 Mitglieder. Mit von der Partie waren noch heute bekannte Persönlichkeiten wie Peter Behrens, Richard Riemerschmid oder Josef Hoffmann und sie einte auch ein gesellschaftlicher Anspruch, die künstlerische Gestaltung sollte moralisch und erzieherisch wirken.

Die Gründung ist nun 100 Jahre her, Anlaß für einen Rückblick im Doppelpack. Unter Leitung von Winfried Nerdinger von der TU München kam dort eine umfangreiche Ausstellung zustande, an deren Realisation sich das Fachgebiet Geschichte und Theorie der Architektur (GTA) der TU Darmstadt, die Neue Sammlung des Museums für angewandte Kunst in der Pinakothek der Moderne München und das Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart be-teiligten. Bereits 2006 fand unter Federführung von Gerda Breuer, die die einzige deutsche kunstgeschichtliche Professur mit Spezialisierung auf Designgeschichte innehat, ein Symposion statt, dessen Ergebnisse jetzt publiziert wurden. Spielt Nerdinger über die Bande und konzipierte eine fulminante Überblicksdarstellung, so interessiert sich Breuer vertiefend für einzelne, so die These, bislang eher vernachlässigte Aspekte des Werkbunds nach 1945. Daher ist es konsequent, dass sich Nerdinger für ein chronologisches Vorgehen entschied, Breuer dagegen sortierte die einzelnen Beiträge nach den Arbeitsfeldern der Werkbündler. Zu Wort kommt, da der DWB für alle Lebensbereiche Produkte gestaltete, daher deren gesamtes Spektrum, Foto und Film, Design, Architektur und Stadtplanung. Inhaltlich ergänzt sich das Doppel prächtig und zwei Beiträger, neben Breuer noch Sandra Wagner-Conzelmann und Christoph Oestereich, sind in beiden Publikationen vertreten.

Eine Überblicksdarstellung richtet sich per definitionem an ein breites Publikum ohne Vorkenntnisse. Didaktisch sehr geschickt, versiert im Stil, bei Nerdinger wird der DWB umfassend aufgearbeitet. Zur Vorstellung von deren Personal und thematischer Schwerpunkte, gesellen sich Darstellungen zu Organisations- und Aktivitätsformen (Herausgabe von Publika-tionen, Ausstellungen, Vorträge) und zu Debatten um Ziele und Organisation. Neben diesen internen Aspekten sprechen einige Beiträger auch exogene Einflüsse wie kulturelle Wandlun-gen und politische Einmischungen an. Es gibt viel zu erzählen und so widmen sich allein sechs Beiträge der Vorgeschichte. Es gelingt durchweg allen Autoren Interesse für den Gegenstand zu wecken. So ist es überaus spannend zu erfahren, Ideen und Gründungsenergien der Pioniere speisten sich aus verschiedenen Quellen der um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Reformbewegung in Kunstgewerbe und Architektur. So schloß sich der innovative Teil des Fachverbands des Kunstgewerbes den Bündlern an, die bald nach Europa ausstrahlten. Skizziert wird die Europäisierung mit Ausstrahlung nach Österreich, Schweden, England, Ungarn, Tschechien und der Schweiz. Diese Ausdehnung der Ideen fiel in eine sehr vitale Phase des Werkbunds, dokumentiert etwa durch die Gründung des Deutschen Museums für Kunst in Handel und Gewerbe oder durch die Herausgabe des Deutschen Warenbuchs von 1915, einem bilderreichen Verzeichnis industrieller Qualitätswaren. 2005 wurde es in einem Reprint vom Verlag Reimer erneut vorgelegt. Intern jedoch waren diese Jahre von Kontroversen, etwa der zwischen Muthesius und Henry van de Velde, durchzogen. Zwei Konzepte, festgemacht an der Position von Hermann Muthesius, der ein typisierendes Gestalten propa-gierte und Henry van de Veldes Ansicht, der auf einer künstlerisch individuellen Gestaltung beharrte, standen sich gegenüber. Wie auch in anderen kulturellen Bereichen, fruchtbar war die Arbeit der Bündler in der Weimarer Republik. Sie vollbrachten, so die Beiträgerin Joan Campbell, einen "Quantensprung" mit der Gründung der hauseigenen Zeitschrift "Die Form", deren Geschichte und Konzept Brigitte Kuntzsch auffächert. In diese Periode fallen auch be-deutende Ausstellungen des Werkbunds. In Stuttgart findet 1927 die große Ausstellung zum Thema Wohnen und 1929 zu Film und Foto statt, letztere, so die Beiträgerin Ute Eskildsen, übte "nachhaltigen Einfluß auf die moderne Praxis der Photographie aus." Zu Beginn der dreißiger Jahre jedoch lag der Werkbund "im Todeskampf". Der Bedeutungsverlust hatte interne aber auch externe Gründe. Campbell faßt das Verhalten des Werkbunds Anfang der dreißiger Jahre als ein abgestuftes Verhalten zusammen. Es reichte über "Anpassung" an und "Kooperation" mit der neuen politischen Kraft bis hin zur "Verschmelzung" mit den neu ein-gerichteten nationalsozialistischen kulturellen Institutionen. An dieser Stelle setzt der Beitrag von Ulrich Hartung ein, der, als einer von fünf Beiträgern, die Zeit von 1933 bis 1945 beleuchtet. Deutlich wird, der DWB war gespalten. Zur Anpassung an die "neuen Forderungen" war etwa Hans Poelzig bereit. Ziel dieser Gruppe war es, den Bund als Organisationsform zu retten. Die Gruppe um Walter Gropius und Wilhelm Wagenfeld vertrat die Position der Beharrung auf den ursprünglichen Zielsetzungen.

Die nun folgenden Kapitel, 1945 bis 2007, überschneiden sich mit dem Projekt von Breuer. Einschneidende Änderungen gab es nach 1945. Neu war die föderale Struktur des Werkbunds, der sich 1950 wieder gründete. Ab 1952 gab es auch mit "Werk und Zeit" eine neue Zeitschrift und auf Anregung des Werkbunds wurde der Rat für Formgebung etabliert. Dessen Wirken führte jedoch zu dem für die Bündler nicht intendierten Ergebnis eines Bedeutungsverlusts des Werkbunds. Mehr noch als der Ausstellungskatalog setzt sich Breuer auf die Fährte von vergessenen Aktivitäten des Bundes. Das betrifft sowohl die Forschung als auch die Darstellung in der Öffentlichkeit. Im Ausstellungskatalog unternimmt es Werner Durth zu zeigen, in der Bundesrepublik waren es nicht die Grünen, die das Thema Ökologie entdeckten, sondern Werkbündler bereits Ende der 1950er Jahre. Ebenfalls früh griffen sie Themen auf, die noch heute, wie Zugang zu sauberem Wasser und bezahlbarem Wohnraum, von Bedeutung sind. Die 1971/72 eingerichtete Ausstellung hieß deshalb "PROFITOPOLI$". Ebenso aktuell ist heute das Thema Jugendkultur, dem sich der DWB 1986 mit der Ausstellung "Schock und Schöpfung" widmete. Diese Ausstellung war eine der wenigen Aktionen des sonst zersplitterten und von internen Kämpfen zerrissenen Gesamtverbands. Zu dessen Zukunft äußern sich noch auf den abschließenden Seiten einige Protagonisten. Sie nehmen damit eine von Julius Posener 1986 formulierte Frage auf, ob der Werkbund heute noch gebraucht werde.

Wie Gerda Breuer dies sieht ist nicht zu erfahren, ihr Augenmerk gilt der Rezeption und der vernachlässigten und vergessenen Geschichte dieser, neben dem Bauhaus, so bedeutenden kulturellen Institution mit internationaler Ausstrahlung. Selbstredend kann man auch bei Nerdinger Entdeckungen machen, Breuer indes vertieft einzelne Aspekte. Dazu gehört die differenzierte Darstellung personeller und organisatorischer Netzwerke der Bündler. Diesen Teil bearbeitete umfangreich Christoph Oestereich. Eindrucksvoll beleuchtet Sandra Wagner-Conzelmann die Rolle einiger Werkbundmitglieder bei der vom Berliner Senat 1957 veranstalteten Bauausstellung "Interbau". So geht vieles im Bereich der Ausstattung der Muster-wohnungen im Hansaviertel auf Werkbündler, die aber nicht in dieser Funktion in Erscheinung traten, ebenso zurück wie auch bei der Begleitausstellung "die stadt von morgen". Mit der Designerin Margret Hildebrand (1917-1998) beschäftigt sich Karin Thönnissen. Die heute vergessene Designerin war hauptsächlich im Stoffdesign tätig. Ihr gelang die Aufnahme in die Geschäftsleitung der für den Werkbund arbeitenden Stuttgarter Gardinenfabrik und sie engagierte sich für die "Anerkennung des Textildesigners als im Bereich Design selbstständiges Berufsbild. In der Publikation des Symposions werden viele Details von Wichtigkeit genannt, kaum bekannt allemal. Aufgelockert wird die auch gestalterisch gelungene Publikation durch eine ausführliche Dokumentation von Notizen und Fotografien, aber auch von Abbildungen aus der Produktion.

Deutlich wird in beiden Publikationen, stark akzentuiert bei Breuer, zweierlei. Auf den Schultern vieler Werkbündler stehen heutige Gestalter und Fotografen und einige Ideen des Werkbunds wurden so erfolgreich rezipiert, dass sowohl Genese als auch Wirkung in Vergessenheit gerieten. Heute spricht man von Industrial Design, vor 100 Jahren wurde es entwickelt und auch im Bereich Fotografie gilt es, Traditionen und Pionierleistungen sichtbar zu machen. Das gelingt Breuer am Beispiel des Fotografen Willi Moegle (1897-1989), Pionier der Sachfotografie, der noch zu wenig bekannt ist. Auch wenn der Band von Breuer nicht als Überblick konzipiert wurde, auch hier sind die Beiträge durchweg verständlich geschrieben. Sehr verdienstvoll ist dieser Blick, der konzeptionell auch monographische Beiträge ermöglichte. Der Verlag Wasmuth hält noch mehr dazu bereit. Auch von Gerda Breuer stammt eine Publikation zum Designer, Grafiker und Pädagogen Jupp Ernst, dessen Dekorentwurf für Resopalplatten den Symposionsband ziert.

Das Verhältnis von Kunst und Wirtschaft wurde vor 100 Jahren erfolgreich im DWB institutionalisiert und zum Jubiläum gut, auch gestalterisch in seinem Sinn, dokumentiert.


Winfried Nerdinger (Hrsg.)100 Jahre Deutscher Werkbund. 380 S., 300 s/w und 300 fb. Abb., Prestel, München 2007. Gb. EUR 59,00. ISBN: 978-3-7913-3867-5
Sigrid Gaisreiter
Das gute Leben. Der Deutsche Werkbund nach 1945. Hrsg.: Gerda Breuer. 320 S., 340 z. T. fb. Abb., 21 x 30 cm. Pb. Wasmuth, Tübingen 2007. EUR 39,80
ISBN 978-3-8030-3207-2
 
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