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In Bewegung

Unsere Zeit ist von vielfältigen Veränderungen geprägt. Schaut man zurück auf die letzten 100 Jahre, wirken sie geradezu wie eine Ära der Super-Beschleunigung. Sei es der Wandel in den Ernährungsgewohnheiten, Neuerungen in der Kommunikationstechnik oder die Möglichkeit grenzenlosen Reisens – das Tempo des Wandels im täglichen Leben beschleunigt sich rasant, so meinen wir zu wissen. Was gerade noch neu schien, ist in wenigen Jahren veraltet und wird abgelöst von wiederum gänzlich Neuem.

Doch ist diese subjektiv gefühlte Beschleunigung tatsächlich so neu? Oder hat es einen raschen Wandel im Verlauf der Jahrhunderte und Jahrzehnte nicht immer schon gegeben, ebenso wie es immer schon retardierende Strukturen und Kontinuitäten von Verhaltensweisen gab?

20 Autoren aus Universitäten und Museen widmen sich in dem vorliegenden Buch diesen Veränderungen unserer Alltagskultur und teilen sie in fünf Themenbereiche: Wohnen, Ernährung, Arbeiten, Freizeit und Kommunikation.

War noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Hab und Gut von Mägden und Knechten in einer einzigen Kiste unterzubringen, brauchte es wenige Jahre später eines Umzugswagens und statt schwerer Eichenschränke ist jeder Kleiderschrank heute in seine Einzelteile zerlegbar und damit schnell und vielfach zwischen Flensburg und Kempen hin und her zu transportieren.
Und wer hat mag sich heute noch Zeit nehmen, den Feierabend mit stundenlangem Kochen zu verbringen, ganz abgesehen davon, dass sich selten drei oder mehr Personen zur gemeinsamen Mahlzeit versammeln? Der Transport und die Konservierung von Nahrungsmitteln unterscheiden sich in den letzten hundert Jahren im Prinzip nur wenig wenn es darum geht, Truppenverbände zu verköstigen oder Massen von Arbeitnehmern in Kantinen und Gasstätten zu versorgen. Auch die Mobilität der arbeitenden Bevölkerung ist wie eh und je gefordert. Waren es um Jahrhundertwende die Wanderarbeiter, sind es heute leider viel zu oft befristete Arbeitsverträge, die den Arbeitsuchenden ständige Flexibilität abverlangen, im internationalen Kontext geht das einher mit Migration und Flucht vor Hunger und Armut.

In der industrialisierten nördlichen Hemisphäre haben sich darüber hinaus in der Freizeit weitere Fortbewegungsmuster vom Nordic Walking bis zum Reisen in ferne Länder neu entwickelt. Ging es vor hundert Jahren gerade mal zum Pfingstausflug in die Lüneburger Heide, kann man heute mit genügend Geld sich sogar ins All schießen lassen. Der Mensch liebt Bewegung, sei es zur Entspannung oder als unbewusstes Fluchtverhalten.

Auch das Kleinkind, am Körper getragen und/oder im Auto transportiert unterliegt ständiger Bewegung. Nicht selten erzeugen Spielzeuge- und Bildungsangebote für Kinder, gekauft und gebucht mit Blick auf die künftige Karriere mitunter Beschleunigungseffekte, die nicht unbedingt förderlich sind. Leider kommt dieser Aspekt im Buch nicht zum Ausdruck, wurde aber erfreulicherweise im Hessenpark in Neu-Anspach, wo zu diesem Thema die erste von noch folgenden Ausstellungen stattfand.

Das Schlusskapitel „Kommunikation“ schlägt wie die anderen Themen ebenfalls einen weiten Bogen. Vom hölzernen Ohr, über das Telefon, E-Mail und über Möglichkeiten der Selbstdarstellung im Web bis hin zum Phänomen der Fernbeziehungen veränderten sich im Lauf der vergangenen hundert Jahre die Strukturen alltäglicher Kommunikation.

Die modernen Kommunikationsangeboten bergen Gefahren aber auch Chancen für alle Altersgruppen, auch für den älteren Menschen, der sich nicht mehr damit zufrieden gibt, an einem ihm zugewiesenen Platz mehr oder weniger regungslos zu verharren. Dem Kleinkind mögen die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, abgesehen vom Babyphon, das jedes seiner Regungen verzeichnet, noch einigermaßen verborgen bleiben. Für den älteren Menschen dürfte es hingegen ein Segen sein, per Telefon seine Liebsten zu erreichen: Ob er twittert oder chatet, oder eine SMS versendet, er kann unter vielen Möglichkeiten wählen. Unmöglich ist nichts, selbst über 90jährige können sich diese Kommunikationsmittel durchaus aneignen.

Man muss halt in Bewegung bleiben…

Gabriele Klempert
In Bewegung - Wie Alltag sich verändert. Hrsg. v. Freilichtmuseum Hessenpark GmbH. 352 S., 350 Abb. 26,5 x 22,5 cm. Gb Imhof Verlag, Petersberg 2009. EUR 29,95
ISBN 978-3-86568-434-9   [Michael Imhof]
 
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