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Erinnern und Vergessen - im Spiegelkabinett der Ansichten

Tagungen, Ausstellungen und Publikationen: die Kette der Veröffentlichungen zum Thema ‘Erinnern und Vergessen’ reißt nicht ab. Auf beinahe allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens wird freiwillig oder zwangsläufig über die Gedächtniskultur nachgedacht. Unbehagen oder Erkenntnisfreude begleiten die verschiedenen Positionen, wobei die Umstände der Recherchen den Ausschlag für das jeweilige Stimmungsbild liefern. Alte Argumentatoren spüren eine frische Brise für ihre schon historischen Ansichten, Politiker verkünden das Lied der moralischen Ermahnung, und Wirtschaftsvertreter stemmen sich hilflos gegen starke Böen der Verpflichtung. Vielfalt und Allgegenwart des Gedächtnisthemas bekundet die kulturelle Monumentalität nicht nur aus moralisch-politischer Perspektive. Nach Maurice Halbwachs ist das Gedächtnis jene Klammer, die die Generationen in der Moderne zusammenhält. Aus dieser Perspektive sprechen Kulturwissenschaftler der Gegenwart (Assmann, Harth) von einem akuten Wandlungsprozeß: das Generationengedächtnis geht in ein anonymes Archiv über. Öffentliche Diskussionen über das Holocaust-Mahnmal in Berlin, die Bubis-Walser-Kontroverse oder die Goldhagen-Debatte, um nur die wichtigsten zu nennen, werden in ihrer Heftigkeit sowohl vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Greueltaten als auch vor dem der Wandlung des kollektiven Gedächtnisses verständlich.

Delegierung des Erinnerns

Besonders die Kontroversen um das Holocaust-Mahnmal in Berlin zeugen von dieser Problemlage. Wissenschaftler, Politiker und Vertreter der jüdischen Gemeinden vertraten ihre Positionen. Die von dem New Yorker Bauhistoriker Michael S. Cullen herausgegebene Publikation ‘Das Holocaust-Mahnmal’ will mit 32 Beiträgen dem Leser eine Dokumentation der in Tagezeitungen ausgetragenen Debatte offerieren. Walter Grasskamp, Tilmann Buddensieg, Eduard Beaucamp und Hans Ernst Mittig argumentieren als Kunsthistoriker jedoch mit verschiedener Ausrichtung: Während Grasskamp die öffentliche Erinnerungspraxis zwischen ‘dubioser Sakralisierung’, scheinheiligen Tönen und Posen’ und schließlich die generelle Delegierung des Erinnerns an ein Denkmal bemängelt, verweist Reinhard Koselleck auf die elementaren Fragen nach dem Standort, dem Zeitpunkt, der zu erinnernden ‘Opfergruppen’ und der künstlerischen Urheberschaft. Seine Antworten sind aus dem Blickwinkel einer politischen Redlichkeit formuliert, wobei er - ähnlich wie Henryk M. Broder - die ‘Hierarchisierung’ der Opfer beklagt. Auch Salomon Korn erhebt seine Stimme gegen die Selbstgenügsamkeit der politischen Interessensvertretung, die nur mit Mühen die Erkenntnisse der verschiedenen Debatten zu nutzen versteht. Ein Kernproblem für ihn ist dabei die historische Verortung Deutschlands unter Berücksichtung der nationalen Identität, gegen die ein unbequemes Holocaust-Mahnmal stehen würde.
Beaucamp äußert sich skeptisch über die künstlerische Qualität der eingereichten Entwürfe; Max Bächer und Tilman Buddensieg verneinen den geplanten Standort des Mahnmals. Die Reihe der Argumente ließe sich fortsetzen. Im ganzen aber ist die Zusammenstellung von der Unübersichtlichkeit dieses Denkmalprojektes gekennzeichnet. Letztlich spiegelt sich hier der Grad einer forcierten Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft, deren Vertreter offenbar außerstande sind, im Falle eines zentralen Themenfeldes einen Konsens zu finden.
Der Dokumentationsband rekapituliert diesen Aspekt, wobei zur Veranschaulichung und eigenen Meinungsbildung ein Anhang mit den Daten der Auslobung, Jurierung und des Projektverlaufs hinzugefügt ist. Bei aller dokumentarischer Strebsamkeit erstaunt das Vorwort Cullens, wo er seinen Mißmut über den Verlauf des Denkmalprojektes und die Möglichkeit, dass von den vorgeschlagenen Prämissen etwa des Standortes abgewichen wird, formuliert. So wird der Band unversehens kein unabhängiger Beitrag, sondern ein Instrument für eine Argumentation. Das Geleitwort des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse ist ein aufrichtiges Bekenntnis zur Notwendigkeit des Mahnmals, doch wirkt seine Stellungnahme befremdlich und die Utopie eines ‘herrschaftsfreien Diskurses’ scheint sich der Resignation hingegeben zu haben.

Visualisierung politischer Macht

Auf dem Felde der Denkmalthematik ist die detailreiche Recherchearbeit von Biljana Menkovich hilfreich, die mit ihrer Publikation ‘Politische Gedenkkultur. Die Visualisierung politischer Macht im öffentlichen Raum." zugänglich gemacht hat. Sie problematisiert das Verhältnis zwischen politischen Interessen und ästhetischen Konzepten auf dem Felde der Gedächtniskultur. Legt sie den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Situation und Geschichte Österreichs, so läßt sich dieser Bezug stellvertretend für eine öffentliche Erinnerungspraxis zwischen Traditionswahrung und Traditionsbruch betrachten. Die Fundamentierung der Thesen durch Quellenrecherchen und Objektanalysen machen diese Arbeit zu einem Fundus weitergehender Interressen und finden sich wohltuend in der Nachbarschaft vergleichbarer Veröffentlichungen etwa von Volker Plagemann oder Christoph Heinrich. Ist auch die Sprache und die Fülle der Informationen im Werk Mencovic bisweilen schwer verdaulich, so lohnt die Mühsal ob der Erkenntnisse, die der Leser gewinnen mag.

Zur Erinnerungsarbeit

Auch die Ausstellung ‘Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944’ zur Gedächtnisthematik hat die Wogen hochschlagen lassen. Zur Ausstellung, die in diesen Tagen eine Überarbeitung erfährt, wurde während der Marburger Station eine Tagung von Kulturwissenschaftlerinnen mit dem Titel ‘Ein anderer Blick auf Gedenken, Erinnern und Erleben’ veranstaltet, u.a. ein Autorengespräch mit dem Regisseur Claude Lanzmann, das dessen Film ‘Shoah’ zum Thema hatte. Aktualität und Interdisziplinarität wird im Vorwort versprochen, um dem Thema von allgemeinem Interesse gerecht zu werden. Die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen wie Film, Plastik oder Installationen sowie die diversen Konzepte finden eine Erörterung, wobei die Thesen von Lanzman in einem Interview wiedergegeben werden. Petra Bopp stellt lobenswerterweise - und spannend zu lesen - das künstlerische Schaffen von Shalev-Gerz vor, (siehe Abbildung) das nur bedingt bekannt ist und stets im Zusammenhang mit Projekten, die sie mit Jochen Gerz realisiert hat, spürbar wird. Ihre körperbezogene Konzeption von Erinnerungsarbeit erstaunt ob ihrer bekannten Projekte etwa in Hamburg-Harburg. Die Gegenüberstellung der Vorstellungen der Künstlerin mit der Befragung in Biron, das Gerz 1994 verwirklicht hat, markiert die unterschiedliche Auffassung der Gedächtnis-Kunst. Gerz konzentriert sich auf das Wort und die Kommunikation (‘Mein Material ist Information’, Gerz), während Shalev-Gerz die Körperlichkeit als Ausgangs- und Zielpunkt wählt. Diese Gegenüberstellung aber als Beleg für eine geschlechterspezifisch unterschiedliche Form der Erinnerungsarbeit zu betrachten, ist kaum nachvollziehbar. Das Schlüsselargument ist der Körperbezug, wobei die verschiedenen Ansätze (Gender Studies, Neue Medien) kaum Beachtung finden.
Diese Zuspitzung ist wenig überzeugend und mindert das Konzept, das sich in einer Fülle von Veröffentlichungen zu behaupten hat. Angesichts der Brisanz des Themas ‘Erinnerung’ wäre eine erkenntnistheoretische Balance zwischen Fokussierung und Strukturierung erforderlich gewesen.

‘wasserdichtes’ Regelwerk der Ästhetik

Eine weitere Tagung liegt als publizistisches Schwergewicht auf dem Büchertisch. ‘Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur’ lautet der Titel eines Kolloqiums von 1996. 28 Autoren versammeln Thesen zur Memoria, wobei der Schwerpunkt in der Literatur liegt, obgleich in den letzten Jahren die kunstgeschichtliche Forschung zum Thema Narratologie neue Erkenntnisse gewonnen hat. Das Generalkonzept des Bandes ist in sich schlüssig und stellt einen verdienstvollen Beitrag zur Mnemosyne-Forschung zum Mittelalter, zur Neuzeit und beginnenden Moderne um 1800 dar - auch und gerade angesichts einer Literaturlage, deren wichtige Titel zur Erinnerung - abgesehen von Francis Yates’ bekannter Publikation - nur in entlegenen Winkeln der Veröffentlichungslandschaft zu finden sind. Neben Ausführungen, die sich mit Themen wie Identität (Klaus Speckenbach), Unio mystica (Alois M. Haas) oder Naturdeutungen (Barbara Bauer) befassen, setzen sich verschiedene Beiträge mit der ästhetischen Rezeption auseinander. Gelten Bilder und Texte als ‘Zwischenspeicher’ (Assmann) von Botschaften, die von einem bekannten Sender, aber einem anonymen Empfänger vernommen werden sollen, so bedarf es einer genauen und ausgeklügelten Gestaltung. Bei dieser Problemlage bedarf es ebenso einer risikoarmen Vermittlung von Inhalten, so dass Wert auf ein ‘wasserdichtes’ Regelwerk der Ästhetik gelegt wurde. Dennis H. Green, Herfried Vögel, Otto Neudeck, Alexandra Stein, Frank Büttner oder Andreas Kablitz zeigen die Vielfalt und die Wandlungen der Animationsästhetik, wie sie für das kollektive Erinnern vonnöten ist. So wertvoll die Erkenntnisse des Bandes sind, so arbeitsintensiv ist deren Fruchtbarmachung für die Gegenwart. Die Detailanalyse mit einem Anmerkungsapparat, der die Beweisführung besiegelt, erleichtert kaum den Zugang für die Gedächtnisproblematik der Gegenwart, die - bei aller aktueller Situation - einer historischen Fundamentierung bedarf. Nicht nur hier ist die Wissenschaft aufgefordert, ihre gesellschaftliche Relevanz jenseits eines wissenschaftlichen Einzelkämpfertums, einer akademischer Konditionierung und Bewahrung der Hochkultur zu befragen. Denn Erkenntnisse zu Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Tradition und Gegenwart auf dem Felde der Erinnerungskultur befördern die Klärung und Zukunftsprojektion akuter Problemstellungen, um diesen Allgemeinplatz einmal zu benennen. Wäre dieser Aktualitätsbezug auch wünschenwert gewesen, so ist der Tagungsband zur Erinnerungskultur der Jahrhunderte dennoch eine ‘innere Notwendigkeit’ jeder Bibliothek.
Kai Uwe Hemken
Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium 1996. In Verb. mit Frühwald, Wolfgang 675 S.1999. HC, EUR 138,-
ISBN 3-484-10775-8
Menkovic, Biljana: Politische Gedenkkultur. Denkmäler: Die Visualisierung politischer Macht im öffentlichen Raum. Hrsg. Reinalter, Helmut. 192 S., 23 cm. Kt EUR 26,60
ISBN 3-7003-1244-X
Das Holocaust-Mahnmal [Berlin]. Dokumentation einer Debatte. Vorw. v. Thierse, Wolfgang. Hrsg. v. Cullen, Michael S. 2. Aufl. 1999. 297 S. 12 × 19 cm. Kt DEM 19,90
ISBN 3-85842-519-2
Formen von Erinnerung. Eine Diskussion mit Claude Lanzmann. Ein anderer Blick auf Gedenken, Erinnern und Erleben. Eine Tagung. Bearb. v. Schneider, Silke. 1998. 93 S., 17 Abb., 24 Jonas, Marburg 1999. EUR 15,-
ISBN 3-89445-239-0
 
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