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Architecture in Global Socialism

Das Globalisierungsprojekt der Moderne wird gemeinhin mit dem Kapitalismus in Verbindung gebracht: koloniales oder postkoloniales Erschließen von Märkten zur Steigerung des Absatzes und zum Abbau der Ressourcen. Und doch gibt oder gab auch die sozialistische Variante modernistischer Globalisierung, die vom sogenannten Ostblock ausging. Sie war, zumal ideologisch-politisch angefacht durch die Systemkonkurrenz, ebenfalls weltumspannend-expansionistisch, wenngleich nicht aus den selben wirtschaftspolitischen Gründen.
In seinem soeben erschienenen fulminanten Werk „Architecture in Global Socialism. Eastern Europe, West Africa, and the Middle East in the Cold War“ offenbart Lukasz Stanek übersehene Perspektiven auf die Nachkriegsmoderne: eben jene sozialistische Form der Globalisierung, gegossen in know-how der Architekten und Ingenieure, errichtet in Afrika, im Orient und in Ost-Europa.
Es tut sich hier eine gänzlich neue Sichtweise auf Architektur als Ganzes auf – eine Sichtweise, die mir in meiner eigenen Arbeit zentral geworden ist dank der bewußtseinserweiternden Erfahrung der Finanz- und Eurokrise seit 2007/08, die mir aber selbst (noch) nicht gelungen ist, angemessen umzusetzen. Umso mehr freue ich mich über die Arbeit Lukasz Staneks. Er zeigt auf wissenschaftlicher Ebene, dass die marxistische Sicht weiter fruchtbar gemacht werden kann, indem er Architektur als Herrschaftsprojekt bestimmter gesellschaftlicher Kräfte (also: gebaute, Gestalt gewordene Ideologie) erkennt und mit den entsprechenden Triebkräften und Produktionsmitteln (also: Wirtschaft und Technik) rückkoppelt.
Klingt staubig, oder?
Nein, nein, möchte ich entgegnen: Mundschutz auf und Helm ab zur Lektüre.
Es lohnt sich – und es lohnt sich eben auch über das Thema hinaus, denn ich kann natürlich niemandem böse sein, der sagt: „Was interessiert mich Accra in den 60ern.“
Accra, Lagos, Bagdad, Abu Dhabi und Kuwait – das sind die Stationen, anhand derer Staniek uns auf seine Reise durch den globalen Architektursozialismus nimmt. Und es ist hilfreich, dass er sein Thema exemplarisch (und dabei so enorm weitreichend, verschiedene Kontexte umfassend) ausgebreitet hat. Denn im Exempel werden die weltweiten Wirkungen natürlich sehr anschaulich und greifbar.
Ich kann an dieser Stelle Stanieks Wundertüte nur ein Stück aufreißen und beliebige Pretiosen sätzeweis` ans Licht zerren: Man folgt DDR-Ingenieurtrupps um die halbe Welt; man erkennt, wie durch Architekturgeschenke blockfreie Länder stärker an den Sozialismus gebunden werden sollten; man schaut Ungarn bei der Planung Ghanaischer Städte und Siedlungen zu; Betonwerke für Fertigteile, Plattenbauten, Siedlungskonglomerate nach osteuropäischem Standard werden in der halben Welt variiert; polnische Kollektive planen Museen in Nigeria, gleichsam kulturelles Futter für ein postkoloniales Selbstbewußtsein.
Es geht um die ganz großen Maßnahmen der Infrastruktur, der Kommunikation, des Handels, der Kultur: Kaufhäuser, Ministerien, Kongreßhallen (mit irren Flugdächern), Flughäfen, Hotels etc. Aber es geht auch um Bildung, denn nicht nur technisches Wissen exportierten die Ostblockländer mit ihren Bauten, sondern auch das Ausbildungssystem.
Staniek hat nicht nur anhand der Quellen und Pläne gearbeitet und in den benannten Städten und Ländern geforscht (er selbst arbeitet an der Manchester School of Architecture), sondern überall dort, wo er noch Protagonisten ausfindig machen konnte, mit ihnen gesprochen. Die Perspektive seiner Studie ist die der direkten Anschauung (und das überträgt sich auf das wunderbare Bildmaterial). Zudem ist das Buch gut geschrieben, es liest sich flüssig, wenngleich die Fülle an Information bisweilen überfordert. Aber es ist dies freilich auch kein Lesebuch. Es ist ein Standardwerk, ein „reference-book“, das ein faszinierendes, durch den vermeintlichen Sieg des Kapitalismus übersehenes Thema erschließt - und darüber hinaus (und eigentlich: vor allem) eine angemessene, weitreichende und tiefgründige Methode, sich mit Architektur auseinanderzusetzen.

23.10.2020
Christian Welzbacher
Lukasz Stanek: Architecture in Global Socialism. Eastern Europe, West Africa, and the Middle East in the Cold War. Princeton und Oxford, Princeton University Press. 358 Seiten. 150 fb. 127 sw. Abb. Gb. EUR 51,99
ISBN 978-0-691-16870-8
 
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