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Die neue Krise der Städte

Die Wohnungsfrage ist für viele Städtebewohner am Beginn des 21. Jahrhunderts eine Wohnungskrise geworden: verschärft durch die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, die als Folge des großen, seit den 1980er Jahren (Neoliberalismus, Finanzialisierung) erfolgten Gesellschaftsumbaus eine Schneise der Verwüstung hinterlassen hat und für die Unter- und Mittelklasse Teilhabe am Urbanen, aber eben auch am Privaten zunehmend unmöglich macht. Wir sind, so Ernst Hubeli, indem er ausführlich Friedrich Engels` Analyse des England um 1840 würdigt, wieder im Manchesterkapitalismus angekommen: Ausbeutung pur, auf Kosten des nackten Lebens.
Die dadurch angezeigte Dringlichkeit, sich mit dem Wohnungsproblem auseinanderzusetzen, ist für Hubeli aber nur äußerer Anlass für sein Essay. Mit großem Schwung und weitem Blick, mit sachlichem Stil, feinem Humor und vor allem mit umfassender Kenntnis umkreist er das Thema in den drei Abschnitten seines Buches.
Ein politischer Teil zeigt auf, dass sich im Verlauf der Moderne das, wie Wohnen gelebt wird, von dem gelöst hat, was Wohnen im kollektiv-gesellschaftlichen Gedächtnis ist, sein soll und sein könnte. Es hängt – auch – mit der Standardisierung im industrialisierten Wohnungsbau der späten Moderne zusammen, ist also eine eminent architekturpolitische Frage.
Im zweiten Teil kommen am Beispiel „Enteignungsdebatte“ die wirtschaftlichen Entwicklungen rund um das Wohnen zu Wort, der Verkauf ganzer Stadtteile an Investoren, der (meist von der SPD) durchgeführte Kahlschlag im sozialen Wohnungsbau, der Umgang von Großinvestoren und börsennotierten Unternehmen mit der „Ware“ Wohnen, der „Ware“ Wohnung und – darauf verweist Hubeli mehrfach – der eigentlich attraktiven Ressource in diesem Zusammenhang: der „Ware“ Boden.
Im dritten Teil greift Hubeli dann philosophische Fragen auf: Wohnen als Wille und Vorstellung des Menschen, erneut das Verhältnis von Privat und Öffentlich, Behaustheit – Unbehaustheit (und damit psychische, seelische Aspekte rund ums Wohnen), kulminierend mit der Frage, wie sich eine Art Obdachlosigkeit des Geistes im Zeitalter des durch die neuen Medien und neuen Arbeitswelten angestoßenen neuen Nomadismus auf das Wohnen auswirkt. Und wie sich diese Entwicklung in Zukunft weiterspinnen könnte: Vielleicht wird sie zu neuen Wohnformen führen; vielleicht zu einem neuen Blick auf das, was Wohnen an sich ist; vielleicht auch wird es die Architektur und die architektonische Praxis des Wohnungsbaus verändern, indem der endgültige Abschied vom doktrinären „Weltbaumeister“ erfolgt, der einst den privaten Sozialraum fest umrissen definierte – hin zu einem Planer, der vielfach kodierbare kreative Möglichkeitsräume schafft, die jeder Nutzer frei und flexibel adaptieren kann.
Hubelis Text ist in der Reihe „Streitschriften“ des Zürcher Rotpunktverlags erschienen: ein Kleinformat, kompakt und sauber gestaltet, vor allem aber als Text eine wahre Freude. Ja, es ist eine Streitschrift, man muss, man soll mit dem, was Hubeli sagt, nicht einverstanden sein (so wäre ich etwa weit vorsichtiger gegenüber dem als positiv dargestellten rot-rot-grünen Engagement in Berlin, also Mietendeckel usf.). Genau solche Schriften braucht es, weil es eine konstruktive Auseinandersetzung braucht. Anschaulich, packend geschrieben wird hier auf nachvollziehbare, dabei vielschichtige und perspektivenreiche Weise argumentiert – das ist die inhaltliche Ebene, die als Basis für viele Diskussionen, Seminare, für intensives Weiterbeschäftigen mit dem Thema taugt. Aber auch auf formaler Ebene zeigt Hubeli, was ein Essayist von Format leisten kann, wenn er seinen Text komponiert. Wie sich die drei thematisch, aber auch strukturell eigenständigen Abschnitte bei der Lektüre allmählich durchdringen, ergänzen, erweitern: das erfährt der geneigte Leser als schiere Wonne. Kurzum: ein Musterstück der Essayistik ist diese „Neue Krise der Städte“, ein gewichtiger Beitrag zur Architekturpublizistik und ein herausragendes Stück politischer Sachliteratur, das hoffentlich breit rezipiert und diskutiert wird.

05.10.2020
Christian Welzbacher
Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert. Hubeli, Ernst. 192 S. 16,8 x 10,7 cm. Deutsch. Rotpunktverlag, Zürich 2020. EUR 15,00. CHF 17,00
ISBN 978-3-85869-865-0
 
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