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Conflict in the City

In den Stadtgesellschaften der globalisierten Welt hat sich in der letzten Dekade ein Phänomen etabliert, das den urbanen Raum immer mehr verändert: die Rückeroberung des kapitalisierten Terrains durch die Öffentlichkeit. Sie wird am deutlichsten dort wahrgenommen, wo sie sich bildet, um Investitionsprojekte von Banken, Verwaltungen, Bau- und Immobilienkonsortien abzulehnen, unter Namen wie Occupy, Blockupy, Nolympia oder in Form der Stuttgarter Anti-S21-Proteste (die schon auf dem Cover des angezeigten Bandes abgebildet sind). Dass aber diese neue, durchaus gewaltige, von der Politik bisher nur unzureichend ernstgenommene, ja weit eher durch verschiedene Mittel (von Polizeigewalt bis zu bürokratischen Winkelzügen) bekämpfte Bewegung mehr im Sinn hat, als Ablehnung um jeden Preis, dies zu zeigen ist der eigentliche Ansatz von „Conflict in the City“. In 14 Aufsätzen wird dabei deutlich, wie sich aus Protestbewegungen positive Impulse für die Stadtentwicklung gewinnen lassen, pure Planerenergie mit Auswirkungen für die nächsten Dekaden.

Hervorgegangen ist der Sammelband aus einem Symposium in Lissabon, das die Soziologen der dortigen Universität 2013 veranstalteten. Das erklärt, warum spanischsprachige Weltregionen stärker im Fokus stehen, als dies bei anderen Publikationen mit vergleichbarem politisch-planerischem Ansatz üblich ist. So erfährt man etwa, wie sich die Akteure urbaner Proteste in Lissabon vernetzen, um die Stadt als Bühne für ihre Anliegen zu nutzen – und in einem weiteren Beitrag, welche Auswirkungen solche Strategien auf die Politik haben, von der lokalen bis zur staatlichen Ebene. Man liest über das chilenische Valparaiso, in der sich Bürger gegen die musealisierende Überformung von Teilen ihrer Stadt wehrten, um den Ort lebendig zu halten. Madrids öffentliche Räume und Valencias ehemalige Arbeitergebiete bieten den idealen Hintergrund, um die Frage nach Privatisierung der Stadt zu stellen. Einerseits: wer darf den Raum bespielen, wer darf werben, wer darf sich wo und wann aufhalten. Andererseits: wie entsteht Verdrängung durch die vielbeschworene, immer wieder beschriebene Gentrifizierung, wer profitiert davon, wer sind die treibenden Akteure. Über diesen geographischen Bereich hinaus gibt es dann stichprobenartige Ausflüge nach Italien, China und nach Deutschland, das exemplarisch mit Stuttgart 21 vertreten ist.

Interessant ist, dass trotz der scheinbaren Diversität der Beispiele, sich die Problematik immer wieder vergleichbar liest und sich an ähnlichen Konfliktlinien entlang entwickelt. Auslöser für die Bildung von Protestbewegungen sind meist lobbygetriebene Großbau- und Infrastrukturprojekte, die nicht allein durch ihre jahrelange Planungs- und Umsetzungszeit, sondern auch durch ihre Auswirkungen auf das Gefüge der Stadt für schwerwiegende soziale Veränderung sorgen: Verdrängung von Bewohnern, Anstieg der Mieten, des Lärmes oder der Umweltverschmutzung, Verlagerung von wichtigen Stadtfunktionen an andere Orte. Aus diesen oft nicht ausreichend kommunizierten Entwicklungen heraus bilden sich – forciert durch moderne Kommunikationsmittel – nachbarschaftliche Kerngruppen, die sich schnell vernetzen, in ihrem Engagement bündeln und auf ihr Anliegen auf verschiedenem Wege aufmerksam machen. Der dritte Schritt der Entwicklung ist dann jener, bei dem sich die Fallbeispiele am deutlichsten unterscheiden. Da liest man dann vom Umdenken der kommunalen Verwaltungen hin zum kompensatorischen Engagement für mehr – oder: für wieder neuen sozialen Wohnungsbau, wie in Portugal und Südamerika, genauso wie von den Wasserwerfern in Stuttgart oder von Pattsituationen, in denen sich die immer weiter vordringenden Investoren und die immer weiter verdrängten Mieter in einer Art kommunal gesteuerter Schockstarre gegenüberstehen, wie in Italien.
Eine generelle Handlungsanleitung für protestbewegte Bürger bietet der Band genauso wenig wie eine Orientierungsrichtlinie für kommunikationswillige Kommunen. Aber einen ersten Überblick über die Geschehnisse der letzten Dekade, die tatsächlich zu einem allmählichen planungspolitischen Umdenken in vielen Behörden in etliche Städten und Gemeinden dieser Welt bewirkt haben, bietet der Band wohl. Als Ergebnis kann man sich dabei wohl hinter die Ohren schreiben: dass eine zeitgemäße Stadtplanung ohne ernsthafte Einbeziehung der Bürger nicht gelingen kann. Das mag sich banal lesen. Gründlich herumgesprochen hat es sich – zumal im Baulobbyland Deutschland – leider immer noch nicht.

17.12.2015
Christian Welzbacher
Conflict in the City. Contested Urban Spaces and Local Democracy. Hrsg.: Allegra, Marco; Gualini, Enrico; Mourato, Morais. Englisch. 304 S. 30 Abb. 24 x 17 cm. Pb. Jovis Verlag, Berlin 2014. EUR 32,00. CHF 42,00
ISBN 978-3-86859-355-6
 
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