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Fascismo abbandonato. Kinderferienlager in Mussolinis Italien

„Typisch Angelsachen!“, will man ausrufen, wenn man im Anhang des vorliegenden Buches die Erklärung dafür findet, wie das Projekt zustande kam. Man hatte also von den faschistischen Jugendheimen in Italien gehört, die zwischen 1922 und 1940 irgendwo, an der Küste, nahe den Städten, in den Bergen, gebaut worden waren und jetzt vor sich hingammeln. Und so machte man sich auf, sie zu suchen.
Zum Glück ist es bei dieser zwar draufgängerischen, jedoch dilettantischen Art der Wissbegierde nicht geblieben. Denn der Künstler Dan Dubowitz, der Architekt Patrick Duerden und die Autorin Penny Lewis begannen irgendwann mit tiefgreifenderer Recherche, trafen zudem auf ihren Fahrten Experten, etwa den Kunsthistoriker und Verleger Arne Winkelmann und Beniamino Cristofani, der als Architekt für die Neubelebung der einstigen Jugendkolonie Calabrone zuständig war.
All diese Stimmen sind nun in dem großformatigen Buch versammelt, angeführt von den bunten (ach, immer strahlt der Himmel blau) Fotografien der faschistischen Ruinen und begleitet von eingestreuten Zitaten aus der Zeit Mussolinis, die dem Leser und Betrachter ein subtiles Unbehagen bescheren.
Subtil ist das Stichwort. Denn die Komposition dieses Buches ist feinsinnig, sie ist zurückhaltend und sie ist subversiv. Natürlich hat man den Band schnell bewältigt, selbst die Texte (darunter ein konzises Nachwort von Winkelmann, das alle wichtigen Facetten der Colonie beleuchtet, und die im Anhang versammelten knappen Abrisse der Bau- und Nutzungsgeschichte jedes einzelnen, zuvor als Ruine gezeigten Bauwerkes, jetzt mit historischem Bildmaterial). Doch das Gesehene und Gelesene wirkt nach. Man geht förmlich schwanger – natürlich auch dies (als männlicher Leser insbesonders) auf subtile Weise.
Selten bekommt man derart eindringlich eines der Grundprobleme der Moderne vor Augen geführt: die Einnehmbarkeit ihrer Formen für jede Ideologie (Demokratie inbegriffen). Die Qualität der Bauten, die Fähigkeit der beteiligten Architekten, Konstruktion, Licht- und Wegeführung, Proportion und Farbe als Mittel der Stilisierung einzusetzen, wird sofort deutlich – und auf den Vergleich mit anderen Strukturen ähnlicher Größenordnung lenkt Penny Lewis im knappen Vorwort den Leser durch den Verweis auf Le Corbusier.
Ja, was man sieht, ist das Zeugnis eines rauschhaften Aufbruchs, der die ganze Gesellschaft und den Menschen neu formen wollte, an Leib und Seele. Wie schön – und wie elend, denn was für ein niederträchtiges politisches Denken stand dahinter. Und so kommt man zu dem Schluss: Wohl selten trat das Diabolische in solche vollendeter Camouflage auf! Oder irrt da der Interpret? Warum von der Form ausgehen und nicht vom Inhalt? Hat nicht vielleicht die Moderne im Faschismus den ihr eigenen Überbau gefunden?
Man mag zu Ruinen stehen, wie man will (es gibt wahrlich nicht wenige Fotobände über Ruinen auf dem Markt). Man mag bekritteln, dass manche historischen Postkarten gepixelt erscheinen (bitte besser aufpassen). Oder, dass die Aufnahmen der Colonie nicht mit Grossbildkamera und Shiftobjektiv erfolgten. Aber man sollte auch sagen, dass dies ein durchweg gelungener Band über ein international lediglich in Fachkreisen bekanntes Phänomen ist, und dass man diesem Buch eine breite Leserschaft wünscht.
Für die Fotografien, die als Ausstellung bereits an mehreren Orten gezeigt wurden, wäre übrigens die Schaltzentrale der hinter den Colonie stehenden „Liktorenjugend“ (Gioventù Italiana del Littorio, kurz: GIL) der ideale Ort. Das lange vernachlässigte Bauwerk, ab 1933 in Rom-Trastevere nach Plänen von Luigi Moretti errichtet, beherbergt heute im Foyer eine kleine Schau zur Geschichte der Organisation und ist ansonsten – wie die Colonie – beredtes Zeugnis einer Epoche, die, einer Nachkriegslegende zufolge, die meisten Italiener nur als Widerstandskämpfer kannten.

02.11.2012
Christian Welzbacher
Fascismo abbandonato. Kinderferienlager in Mussolinis Italien
Fotografien: Dan Dubowitz. Essays: Penny Lewis, Patrick Duerden und Arne Winkelmann. 136 S., fb. Abb., 32 x 30 cm, Gb. Antaeus Verlag, Frankfurt 2012. EUR 45,00
Nur noch in englischer Sprache erhältlich. Nicht im VlB verfügbar.
ISBN 978-3-9810809-1-9
 
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