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Der Raum des Öffentlichen

Unzweifelhaft hat die Autorin mit ihrer hier in Buchform vorliegenden Dissertation, was die Bearbeitung des Themas für den deutschsprachigen Raum angeht, Pionierarbeit geleistet. Durch mehrere Forschungsaufenthalte in Brasilien und dort besonders in Sao Paulo waren der Autorin die behandelten Bauten aus eigener Anschauung bekannt, was auch in ihre Analysen über den „Raum des Öffentlichen“ eingegangen ist. Darüber hinaus konnte sie Archivmaterial vor Ort auswerten und Gespräche mit dem Architekten Paolo Mendes da Rocha führen.
Einleitend bietet das Buch zunächst jeweils einen kurzen Abriß über die Geschichte Brasiliens, die Entwicklung Sao Paulos zur Megacity und der Moderne in Brasilien während des 20. Jahrhunderts. Besonders Gewicht wird dabei der Unterscheidung zwischen den beiden prägenden Schulen beigemessen, die zwei unterschiedliche Generationen repräsentieren, die sich auch stilistisch verschiedenartig zu positionieren verstanden.

Die vornehmlich in Rio de Janeiro angesiedelte „Escola Carioca“ mit ihren führenden Protagonisten wie Affonso Eduardo Reidy, Lucio Costa und Oscar Niemeyer, die mit ihren Arbeiten eine Überwindung des kolonialen Erbes leistete, ist mit ihren eleganten Formen, offenen Raumschöpfungen und ihrer eigenständigen Verarbeitung europäischer Einflüsse (Le Corbusier) fast zu einem Synonym für die brasilianische Moderne schlechthin geworden. Davon grenzt die Autorin die als brutalistisch charakterisierte „Escola Paulista“ um João Vilanova Artigas (1915-1985) und Paulo Mendes da Rocha (*1928) deutlich ab, denen sie im Folgenden zwei monographisch angelegte Kapitel widmet. Die Hauptthese von einer Architektur der Escola Paulista, in der „Offenheit als räumliches und gesellschaftspolitisches Ideal“ (S. 84ff.) artikuliert, entwickelt die Autorin mittels eines Streifzuges durch das Werk der beiden Architekten. Anhand zahlreicher Beispiele, die öffentliche wie private Bauten gleichermaßen berücksichtigen, wird versucht, Raum als „Ort der Kommunikation“ (S. 138) zu charakterisieren. Sie sieht den barrierefreien Raumfluß als Resultat einer „einzigen durchgehenden Bewegungsfläche […, der ] als eine Abstrahierung des fließenden und grenzenlosen landschaftlichen Raumes gelesen werden [kann].“ (S. 144)

Am Beispiel der spektakulären Architekturfakultät der Universität von Sao Paulo (1961-68), einem Hauptwerk von Vilanova Artigas, kulminiert die These der Autorin. Das unter dem großen Sichtbetonkubus liegende zentrale Atrium ist für unterschiedliche Zusammenkünfte nutzbar. Der Innenraum entfaltet fließende Raumbezüge durch Rampen und Durchblicke, die die weitgehend geschlossene Großform von außen zunächst nicht vermuten läßt. Die Fertigstellung 1968 fiel bereits in die Zeit der Militärdiktatur (1964-1985), so daß der vielfach nutzbare Raum in der Folgezeit zu einem Versammlungsort für offene und demokratische Diskussionen werden konnte.
Die hierzulande noch vergleichsweise unbekannte Architektur Vilanova Artigas und Mendes da Rochas bezeichnet Becker ausdrücklich als „Wiederentdeckung“. Ihre Beschäftigung mit der „Escola Paulista“ mag auch ein Reflex auf die neuerliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Brutalismus sein, der jüngst auch Thema bei Tagungen - so etwa an der Akademie der Künste in Berlin (Mai 2012), bei der Brasilien jedoch nicht thematisiert wurde - und auch die kunsthistorische Forschung zur Nachkriegsmoderne befördert wieder verstärkt die zumeist von der breiten Öffentlichkeit ungeliebten Bauten der 60er und 70er Jahre ins Bewußtsein. Folgerichtig wird auch in Beckers Publikation nach dem Verhältnis von europäischem und brasilianischem Brutalismus gefragt.
Als Absetzung von der besonders aus europäischer Sicht formalistischen und „verschwenderischen“ (Max Bill) „Escola Carioca“ läßt sich auch der brasilianische Brutalismus als eine Reformbewegung verstehen, der mit einer Rückbesinnung auf ursprüngliche Werte der Moderne wie „Ehrlichkeit“ und „Reinheit“ auch wieder eine bestimmte Ethik im Bauen einforderte. Becker referiert hier sowohl die theoretischen Äußerungen von Alison und Peter Smithson, den Hauptvertretern des britischen Brutalismus und einige der zeitgleichen Strömungen auf dem Kontinent. Hierbei war es der italienische Kunsthistoriker Bruno Alfieri, der 1960 die Architektur der Escola Paulista als „brutalismo“ in Europa rezipierte. Die Autorin betont weiter jedoch auch die postulierte Eigenständigkeit der Escola Paulista gegenüber dem europäischen Brutalismus und die Ablehnung dieses Begriffes durch die Architekten selbst, die sich dieser Definition nicht anschließen wollten. Gerade dieser Abschnitt zum internationalen Kontext wirkt recht zwiespältig und wenig überzeugend. Weder wurde präzise zwischen der britischen Position und den anderen europäischen Strömungen unterschieden, noch das Phänomen für das vorliegende Thema näher verifiziert. Dazu hätte sich etwa Alfieris „Rapporto Brasile“ angeboten, was jedoch nicht weiter verfolgt wird. Auch die Verweigerung der Architekten, ihr Werk unter dem Brutalismus-Begriff zu subsumieren scheint gerade im Hinblick auf Mendes da Rocha plausibel, dessen Gesamtwerk weitaus vielschichtiger ist, als die im Buch gezeigten betont betonlastigen Arbeiten.
Auch ein reflektierterer Blick zurück in die brasilianische Architekturgeschichte, gerade im Bezug zur Gestaltung des öffentlichen Raumes vor der „Escola Paulista“, hätte der Arbeit sehr gut getan, besser zumindest als die streckenweise etwas zu modische These vom „Raum des Öffentlichen“.

Die Untergliederung in sehr kurze Kapitel mit jeweils einer knappen Einleitung am Anfang und einer Zusammenfassung am Schluß, führt zu vielen unnötigen Wiederholungen, die den Textfluß des ansonsten gut lesbaren Buches unterbrechen. Auch werden Kernaussagen des Textes oft durch längere Selbstaussagen Vilanova Artigas untermauert, die unkommentiert am Ende eines Teilkapitels stehen. Durch die sehr zahlreichen Beispiele bei der Entwicklung der Hauptthese, geraten viele Analysen der sehr komplexen Raumstrukturen öffentlicher Bauten, besonders der Privathäuser, etwas summarisch. Jedoch bildet der reich illustrierte Band einen guten Einstieg in den brasilianischen Brutalismus, der mit seiner konsequenten Materialbehandlung, dem virtuosen Spiel von geschlossenen Volumen und überraschend offenen Raumstrukturen sicherlich noch reichlich Anregung für weitere Forschungen bieten wird.

21.08.2012
Elmar Kossel
Becker, Margret. Der Raum des Öffentlichen. Die Escola Paulista und der Brutalismus in Brasilien. 280 S. 112 Farb- und 138 s/w-Abb. 24 x 17 cm. Gb. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2011. EUR 49,00. CHF 65,50
ISBN 978-3-496-01456-0   [Dietrich Reimer Verlag]
 
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