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Strassenräume – Berlin Shanghai Tokyo Zürich

Meinen Sie Zürich zum Beispiel sei eine tiefere Stadt...?
Geht es um die Betrachtung öffentlicher Räume, könnte sich Gottfried Benn geirrt haben.

Jürgen Krusche hat sich die Straßenräume von Berlin, Shanghai, Tokyo und Zürich angesehen und kommt zu dem Ergebnis, dass jede Stadt sich in ihrem öffentlichen Raum anders darstellt.
Jede Straße, jeder Platz, jeder Durchgang und Hinterhof eröffnet den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen Möglichkeiten, bestimmte Handlungen durchzuführen und daraus einen Nutzen zu gewinnen.
Diese Aktivitäten hat Jürgen Krusche in zahllosen Fotobeobachtungen zusammengetragen und damit ein eindrucksvolles Panorama von vier völlig verschiedenen Stadt-Gesellschaften geschaffen.

Kommen wir nach Berlin. Hier haben sich, abseits kommunaler Ordnungsvorschriften die Leute den öffentlichen Raum erobert, um etwas mitzuteilen: auf Zetteln, Plakaten, mit Graffitis, Blumentöpfen oder alten Sofas, die niemand mehr braucht. Man wirbt für etwas, man entsorgt etwas (die Empörungszettel hängen gleich daneben), man sucht einen Schlüssel, man braucht einen Parkplatz für den Umzug oder okkupiert den halben Gehweg mit Tischen und Stühlen, um einen Kaffee oder Döner anzubieten. Und wenn man genau hinschaut, stößt man sogar auf richtig gute Kunst. Einfach nur so, weil es Spaß macht und den Horizont erweitert. Ordnungsfanatikern seien diese Straßenzüge Berlins allerdings nicht empfohlen.

Und kommt der Reisende nach Shanghai, wird es richtig bunt. Dort wird der Straßenraum angesichts zu vieler und zu kleiner Wohnungen zur Privatsphäre. Niemand stört sich daran, wenn innerhalb enger Wohninseln privateste Wäschestücke auf zahllosen Leinen hängen. Dienstleistungen werden auf der Straße angeboten. An jeder Ecke herrscht Flohmarkt und ein Fahrrad reicht aus, bis in die Nacht Waren zu transportieren und zu präsentieren. Nur in den Ghettos der Neureichen ist es sauber und still. Sehr sauber und sehr still.

Anders in Tokyo. Hier genießt der öffentliche Raum Respekt. Er ist niemals intim. Wer es wagt, sich in der Metro zu schminken, wird in Tokyo keine Freunde finden. Das private Leben findet in den Innenräumen statt, dennoch ist der öffentliche Raum lebendig. Ein klitzekleiner Park erlaubt ein Sonnenbad zwischen den engen Gassen. Da es an Sitzbänken an den Bushaltestellen fehlt, stellen die Anwohner dort Stühle auf, aus Plastik oder Holz ist egal, sauber sind sie und voll gebräuchlich. Blumentöpfe und kleine Bäumchen trotzen der Enge und verzieren hässliche Klimageräte. Die Einkaufsstraßen sind häufig überdacht und werden damit zu „Innenräumen“. Man kauft eben nicht draußen ein, wie in Shanghai. Und sogar die Obdachlosen – ihre Zahl steigt – verziehen sich mit ihrer Habe zurück in selbstgebaute Hütten oder unter Zelte.

Kommen wir nach Zürich. Abgesehen vom „guerilla gardening“, das sich nur vorsichtig öffentliche Räume erobert, ist so ziemlich alles streng reglementiert. Nur die Werbebranche darf sich, genehmigt, breit machen, und hier und da steht im Winter ein kleines Maroni-Häuschen herum. Auch die Straßengastronomie ist in Zürich bis aufs Kleinste geregelt, man speist mit Niveau. Billige Plastikstühle und Graffitis, „no revolution today“, finden sich nur in abgelegenen Ecken. Für Autos findet sich allerdings immer noch ein Platz und wer diesen für sich reklamiert kennzeichnet ihn mit: „Privat“. Und damit niemand auf die Idee kommt, auf den einheitlich designten Abfallbehältern etwas abzustellen, hat man den Deckel abgeschrägt. Ordnung muss sein.

Meinen Sie Zürich…? Diese foto-ethnografische Untersuchung, wie der Verlag den Untertitel benennt, ist eine wunderbare Einführung, mit offenen Augen durch die Straßen zu streichen und genau hinzusehen, wie die Bewohner den Raum ausfüllen. Man kann auf diese Weise viel von ihnen und ihren Lebensformen erfahren.

20.02.2012
Gabriele Klempert
Krusche, Jürgen. Strassenräume. Berlin Shanghai Tokyo Zürich. Im öffentlichen Raum. Hrsg.: Professur Günther Vogt, ETH Zürich. 160 S. 24 x 17 cm. Pb. Lars Müller Publishers, Baden Schweiz 2011 EUR 28,00. CHF 40,00
ISBN 978-3-03778-248-4
 
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