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Utopist und Volksbaumeister: Bruno Taut

Im Leben und Werk Bruno Tauts spiegeln sich Größe und Dramatik der Architektur des 20. Jahrhunderts wie in keiner zweiten Architektenbiographie.
Mit dem „Glashaus“ auf der Werkbundausstellung in Köln hatte Taut (1880-1938) 1914 einen Programmbau der Moderne geschaffen, den er mit Paul Scheerbarts Glashaussprüchen schmückte. „Das Glas bringt uns die neue Zeit, Backsteinkultur tut uns nur leid“ oder: „Das bunte Glas zerstört den Haß“ war hier zu lesen, doch bereits wenige Tage nach Eröffnung der Ausstellung brach der Erste Weltkrieg aus, und der geheimnisvolle wie faszinierende Reklamepavillon der Glasindustrie, der von der kommenden, neuen Zeit künden wollte, wurde verschrottet. Taut zog sich zurück, um nurmehr ganz als imaginärer Architekt zu arbeiten. Er ersann den Ausbau der Alpen mit kristalliner Glasarchitektur, der im Gegensatz zu den grausam-sinnlosen Materialschlachten des Krieges eine sinnfreie, völkerverbindende kollektive Aufgabe bilden sollte, propagierte die „Auflösung der Städte“ zugunsten der inneren Kolonisation durch Gartenstädte und träumte von der architektonischen Ausgestaltung der Erde zu einer guten Wohnung. 1918, in dem Bewußtsein, in eine neue Epoche einzutreten, gründete er gemeinsam mit expressionistischen Künstlern und progressiven Architekten den sozialistischen „Arbeitsrat für Kunst“ und verband sich mit Hermann Finsterlin, Wenzel August Hablik, den Brüdern Wassili und Hans Luckhardt, Hans Scharoun und Walter Gropius zu dem verschworenen Kreis der „Gläsernen Kette“. In der Umbruchszeit der Nachkriegsmonate wollte Taut zunächst Visionen entwickeln, bevor man sich den Sachzwängen konkreter Bauaufgaben hingab. Erst 1920 schreibt er an seine Freunde: „Es entsteht eine neue Atmosphäre, reiner und leichter, und das Ringen hört auf.“ Und der Utopist und Visionär wandelt sich zum Volksbaumeister, der seine gereiften Überzeugungen in Magdeburg und Berlin umzusetzen weiß. Während er als Stadtbaurat das „Neue Magdeburg“ in bunten Farben erstrahlen ließ, realisierte er im Auftrag der Berliner Baugenossenschaft GEHAG zwischen 1924 und 1932 über 10.000 Wohnungen. Hier hat er das Himmelsstürmende der „Alpinen Architektur“ oder des „Weltbaumeisters“ vollends abgelegt – zugunsten einfühlsamer Planungen, die Modernität mit Nutzerfreundlichkeit, Flachdach mit ‚malerischem’ Städtebau und Großsiedlungen mit Individualität und Liebe zum Detail verbinden. Noch heute sind die Bewohner der Hufeisensiedlung Britz oder der Siedlung Onkel Toms Hütte in der Nähe des Wannsees stolz auf ihre Siedlung und schätzen die Qualität der praktischen und komfortablen Wohnungen. Vom Utopisten zum Stadtbaurat und vom Volksbaumeister zum – von den Nazis in die Emigration gezwungenen – Baumeister türkischer Schulen und Universitäten, das sind die Eckpunkte dieser faszinierenden Biographie, die zeigt, daß künstlerische Handschrift und die Realisierung menschenfreundlicher Wohnbauten in der Architektur des 20. Jahrhunderts keine Widersprüche bilden müssen. Nach den – teilweise vergriffenen – Monographien von Kurt Junghanns (1970), Iain Boyd Whyte (1981), Julius Posener (1989) und Manfred Speidel (1995) liegt nun ein Band vor, der den ‚ganzen’ Bruno Taut präsentiert und mit einem Werkverzeichnis einen Überblick über realisierte wie unausgeführte Projekte sowie publizierte und unveröffentliche Schriften des Architekten bietet. Vor allem ist die neue Monographie zu Bruno Taut ein Standardwerk: nicht nur als Biographie eines Einzelnen, sondern auch als exemplarisches Werk über das Drama der Architektur im 20. Jahrhundert. Denn keine andere Gattung der bildenden Kunst verkörpert deutlicher das Spannungsfeld zwischen genialer künstlerischer Erfindung und Bewährung in der Praxis. In Tauts Werk zeigt sich die Möglichkeit eines Brückenschlags zwischen Form und Funktion, Formalismus und Funktionalismus, Utopie und Nutzbarkeit.
Rainer Stamm
Bruno Taut 1880-1938. Architekt zwischen Tradition und Avantgarde. Hrsg. v. Nerdinger, Winfried /Hartmann, Kristiana /Schirren, Matthias /Speidel, Manfred. 2001. ca. 448 S., ca. 600 Abb., davon 300 farb. -28 x 25 cm. Gb DEM ca 248,-
ISBN 3-421-03284-X
 
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