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Ur- und frühgeschichtlicher Grabraub

Seit der Beschäftigung mit den Hinterlassenschaften der Vorfahren ist mit dem Begriff Archäologie untrennbar das Konzept des Grabraubes verbunden. Nicht ohne Grund gilt der Grabräuber als größter Feind der Archäologie (S. 20). Trotz der Androhung von Strafen, wie sie bereits in der so genannten Lex Salica erhalten sind, hat der pauschal meist als „Grabraub“ bezeichnete Eingriff stets eine Rolle gespielt und ist bis heute ein aktuelles Thema. Noch vor der Angst vor Wiedergängern galten und gelten noch immer vor allem Habgier und Macht als Hauptbewegründe zur Störung einer Grabstelle. Immer wieder begegnet uns das Thema im archäologischen Schrifttum und hat stets eine durchaus prominente Rolle gespielt. Dies zeigt nicht zuletzt auch das 1977 in Göttingen abgehaltene „Grabfrevel-Kolloquium“, initiiert und herausgegeben von H. Jankuhn. Völlig zu Recht betont der Autor C. Kümmel allerdings, dass leider auch bis heute keinerlei größere Synthese und kritische Besprechung der Thematik erfolgt ist. Dies mag daran liegen, dass es nicht einfach ist, sich dieser Thematik zu widmen und man es nicht zuletzt auch mit ambivalent diskutierbaren und interpretierbaren Quellen zu tun hat. Stützte man sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. vorwiegend auf literarische Quellen zum so genannten „Grabraub“, hat eine vielfältige Beweisaufnahme archäologischer Indizien sehr bald auch entsprechende Bodenfunde vorweisen können. Sehr schnell wurden hier allerdings Gräber mit eigenartig angeordneten oder fehlenden Knochen mit Konzepten der Wiedergängerproblematik verbunden, die wir heute differenzierter und kritischer als Teile von Sekundärbestattungen erklären können. Nicht destotrotz bleibt die Grabstörung/-manipulation freilich eine mögliche Interpretation bei vielen dieser Befunde.
Licht und Klarheit ins Dunkel dieser Problematik zu bringen verspricht die Publikation von C. Kümmel, die 2007 als Dissertation verteidigt und 2009 in der Reihe der Tübinger Schriften zur Ur- und frühgeschichtlichen Archäologie publiziert worden ist. Anders als viele seiner Vorgänger bedient sich der Autor eines sehr viel breiteren Sets an Methodik, das sich aus Aspekten der Kulturwissenschaft und vergleichenden Ethnologie speist. Bei der Fülle an Informationen und Quellen musste sich Kümmel zwar sehr stark einschränken – so finden vor allem Funde und Befunde aus Mitteleuropa Eingang in die Arbeit, doch wird schnell klar, dass hier ein neues und mustergültiges Kompendium vorgelegt wurde, welches für die nächsten Jahre zum Standardwerk avancieren wird.
Zunächst widmet sich der Autor der generellen terminologischen Problematik, denn zumeist wird der Leser mit dem Begriff „Grabraub“ konfrontiert, der diesem kulturgeschichtlichen Phänomen nicht gerecht wird. Zum einen beinhaltet die Bezeichnung, wie Kümmel zu Recht zu bedenken gibt, bereits eine klare, negative Wertung, zum anderen handelt es sich generell um eine sehr ungenaue Begrifflichkeit. Ersterer Punkt kristallisiert sich immer mehr in den Archäologien als wichtig heraus, da es natürlich äußerst bedenklich ist, unsere heutigen modernen, zumeist christlich geprägten Werte auf die vor- und frühgeschichtlichen Quellen anzuwenden, die gleichsam von Anfang an in dieser Form zum Scheitern verurteilt sind. Kümmel versucht im Folgenden eine andere Begrifflichkeit, die der „Grabmanipulation“ bzw. „Grabstörung“ (S. 25-26) zu etablieren, was eine gute Lösung aus dem bisherigen Dilemma darstellt.
Wenngleich der moderne Leser „Grabstörung“ recht schnell mit Sondengängern etc. in die modernen Zeiten projizieren wird, so ist es doch äußerst interessant, dass Grabmanipulation tatsächlich ein bereits sehr altes Phänomen menschlicher Handlungsweisen darstellt. Überspitzt gesagt, setzt mit dem Beginn der Bestattungssitte des Menschen auch die Grabstörung ein. Tatsächlich liegen aus sehr früher Zeit manche klaren archäologischen Indizien für eine zeitnahe Störung nach der Bestattung vor. Doch was waren die Motivationen der Menschen, die zu der von uns heute letztlich nur noch festzustellenden Tatsache des „Grabraubes“ führten? C. Kümmel gelingt es im ersten Teil seiner Arbeit drei große Motivgruppen herauszuarbeiten. So benennt er ökonomische Gründe, nichtökonomische, sowie letztlich Manipulationen, die aus besonderen Bestattungsritualen herrühren (S. 77-105). Am bekanntesten dürften dabei die der ersten Kategorie sein, die zumeist bis heute die Grundmotivation für derartige Handlungen darstellen: die Beschaffung von Wertgegenständen. Doch es gelingt Kümmel ebenso die anderen Klassen, wie Sonderbestattungen, Machtdemonstrationen, Entnahme von menschlichen Knochen als magische Objekte (Stichwort mittelalterlicher Reliquienkult etc.), als plausible Interpretationsmöglichkeit gelten zu lassen. Eine Kategorie, die sehr oft übersehen wurde und in vielen Fällen gar nicht in Betracht gezogen wurde, ist die sekundär bzw. mehrphasig erfolgte Bestattung, der erst in den letzten Jahren – unter anderem durch die Dissertation von J. Orschiedt – gebührende Aufmerksamkeit zuteilwurde.
Der besondere Wert der vorliegenden Publikation liegt vor allem in der Sensibilisierung zur korrekten Ansprache und Beschreibung der entsprechenden Befunde und Funde, wobei es Kümmel gelingt Kriterien für die archäologische Klassifikation des Phänomens aufzustellen (Kapitel 3). Neben der großen Bedeutung der taphonomischen Prozesse, auf die einige Jahre zuvor J. Orschiedt in besonderem Maße aufmerksam gemacht hat, verweist Kümmel des Weiteren auf indirekte Hinweise für Grabmanipulation, sowie Möglichkeiten, den Zeitpunkt der erfolgten Störung herauszuarbeiten.
Im vierten Teil der Arbeit widmet er sich den in der europäischen Vor- und Frühgeschichtsforschung mit Grabmanipulation in Zusammenhang gebrachten Gräbern Mitteleuropas. Dabei wird absichtlich ein umfassender Blick vom Neolithikum bis hinein in die Merowingerzeit gewagt. Der Autor sieht sich hierbei einer besonders schwierigen Situation gegenüber, nämlich der sehr heterogener Beschreibungen und Qualitäten der entsprechenden Befunde. Des Weiteren ist natürlich davon auszugehen, dass viele Indizien und indirekte Hinweise bei den älteren Grabungen nicht bemerkt bzw. nicht notiert und publiziert worden sind, so dass mit einer großen Ungenauigkeit gerechnet werden muss, was letztlich eine statistische Auswertung nahezu unmöglich macht. Eine Möglichkeit diese Ungenauigkeiten zumindest etwas zu überspielen, um aussagefähige Daten zu erhalten, ist der Blick in die Nachbarwissenschaften wie der Ethnologie. Dies, ein lange etabliertes und kritisch angewandt durchaus hilfreiches Instrumentarium, dient auch Kümmels Arbeit.
Der sechste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der so genannten „Bewährungsprobe“. Die in den vorhergehenden Kapiteln erarbeiteten neuen Modelle und Interpretationsansätze werden letztlich an einigen ausgewählten mitteleuropäischen Fallbeispielen, so beispielsweise am Schädel von Le Mont Troté und dem Gräberfeld von Munzingen getestet.
Es folgt ein kurzes Resümee zu den Ergebnissen der Arbeit, ein ausführliches Literaturverzeichnis, sowie im Anhang eine Zusammenstellung relevanter Quellen und Befunde in tabellarischer Kurzform.
Kurz zusammengefasst lässt sich feststellen: Lange hat die Archäologie auf eine solch gute und ausführliche sowie fächerübergreifende Synthese zur Problematik der Grabmanipulation gewartet, die nun endlich mit dem hier besprochenen Werk vorliegt. In mustergültiger, kritischer, dabei aber immer klar und gut lesbar geschriebener Form, ist es C. Kümmel gelungen ein inhaltlich gewichtiges Werk vorzulegen, was sicher schnell zur Standardlektüre avancieren wird. Wer sich zur Thematik zu informieren wünscht, wird an diesem Buch nicht vorbeikommen. Das Buch ist klar gegliedert und stringent verfasst, so dass es dem Fachmann, aber auch dem interessierten Laien eine wahre Freude bereitet.

15.02.2013
Robert Kuhn
Kümmel, Christoph: Ur- und frühgeschichtlicher Grabraub. Archäologische Interpretation und kulturanthropologische Erklärung. 364 S. (Tüb. Schriften z. Ur- u. Frühgesch. Archäol. 9) Pb Waxmann Verlag, Münster 2009. EUR 49,90
ISBN 978-3-8309-2205-6
 
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