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Die Entdeckung der Vergangenheit

Das hier anzuzeigende Buch von Alain Schnapp zu den Ursprüngen und zur Vorgeschichte der Archäologie kann gewissermaßen selbst als ein wichtiges ‚Fundstück‘ betrachtet werden, das glücklicherweise an die Oberfläche des deutschen Buchmarktes gefördert wurde. Die bereits 1993 erschienene französische Originalausgabe des an der Universität Paris I lehrenden Archäologen ist in Frankreich längst zum Standardwerk avanciert. Dank der im Verlag Klett-Cotta veröffentlichten deutschen Übersetzung von Andreas Wittenburg hat der lehrreiche Band auch hierzulande schon ein breites Publikum gefunden und wird inzwischen in einer preisgünstigeren 2. Auflage (EUR 24.95) angeboten.
Alain Schnapp wollte mit seinem Buch „eine Studie der Techniken der Erkundung der Vergangenheit und eine Art Vorgeschichte der Archäologie vor[legen], die schriftliche Quellen zwar nicht ausschließt, aber die materiellen Zeugnisse der Vergangenheit stärker in den Vordergrund stellt.“ (S. 8). Es geht dem Autor also weniger um eine Disziplingeschichte der sich im 19. Jahrhundert als universelle Wissenschaft etablierenden Archäologie oder eine Art Ereignisgeschichte der großen archäologischen Entdeckungen, als vielmehr um eine bereits weit zurückreichende Geschichte über den wechselvollen Umgang des Menschen mit den ‚verschütteten‘ und doch stets präsenten Relikten seiner Vergangenheit. Dabei beabsichtigte Schnapp nicht, eine als stringent fortschrittlich gedachte Entwicklungslinie zur heutigen Archäologie herauszuarbeiten, sondern vor allem die evidenten Unterschiede zwischen den Forschungsinteressen der Antiquare und der modernen Praxis der Archäologen aufzuzeigen. Dementsprechend fragt er in seiner historisch-kritischen Betrachtung vorrangig nach den Beweggründen und den Verfahren, nach den Kontinuitäten und Brüchen, den wiederholten Irrgängen und Wiederentdeckungen, welche die einzelnen Antiquare bei ihren Erkundungen des Bodens nach materiellen Zeugnissen ihrer Vorfahren sowie bei der Sammlung, Klassifikation und Interpretation der Artefakte antrieben und durchliefen.
Auf den Spuren seiner bekannten und weniger bekannten Vorgänger schreitet Schnapp in fünf Kapiteln den langen und verschlungen Weg von den ältesten historischen Dokumenten aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. bis zur Herausbildung der modernen Archäologie zwischen etwa 1830 und 1860 ab. Der geographische Bogen wird – abgesehen von einzelnen, zwischen China und Melanesien angesiedelten Exkursen – vom antiken Orient bis zum Okzident der Moderne gespannt, wobei der Fokus insbesondere auf Italien, Frankreich, Deutschland, Britannien und Skandinavien in der Frühen Neuzeit gerichtet ist. Basierend auf einem reichen Fundus an Text- und Bildquellen lernt der Leser im Durchlauf der Jahrhunderte die vielschichtigen Untersuchungsmethoden, Deutungsansätze und Instrumentalisierungen materieller Artefakte kennen. Seit Anbeginn begegnen ihm die verschiedenen Relikte (Megalithe, Bronzen, Urnen, Geräte, Monumente, etc.) als gern zitierte Zeugen im Rahmen herrschaftlicher Legitimation und dynastischer Repräsentation. Mit dem aufkommenden Christentum und der sich stärker ausformulierenden Hagiographie bereiteten die Artefakte aber auch Schwierigkeiten, waren sie doch als heidnische ‚Reliquien‘ nur schwerlich zu gebrauchen. Ohnehin mussten die materiellen Zeugnisse vergangener Epochen ihren gleichwertigen Rang als autonome Quellen neben den Schriftzeugnissen erst erlangen. Dies betrifft insbesondere ihre Emanzipation von der biblischen Überlieferung. Denn gerade das Dogma der Abstammung des Menschen von Adam stellte lange Zeit ein grundlegendes Problem chronologischer Datierungsmodelle dar, bis man im 18./19. Jahrhundert allmählich eine Synthese von Menschheits- und Naturgeschichte anerkannte. Zugleich zeichnet Schnapp ein spannendes Bild der sich spätestens seit der Renaissance ausdifferenzierenden Erkenntnisinteressen und Untersuchungsansätze, die sich beispielsweise besonders deutlich im Vergleich der schatzgräberartigen Punktgrabungen in Italien und den weiträumig-landschaftlich orientierten Erkundungen in Skandinavien und Britannien erkennen lassen. Doch auch wenn die Antiquare in den vorangegangenen Jahrhunderten große Fortschritte im Bereich der Ausgrabungsverfahren, der Klassifikation von Gegenständen und bei der Berücksichtigung technischer Entwicklungen erzielt hatten, so dauerte es doch bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts bis man die methodische Trias aus „Typologie, Technologie und Stratigraphie“ vereinte und damit das Fundament moderner archäologischer Arbeit legte, wie Schnapp nochmals in seinen Schlussbemerkungen pointiert zusammenfasst. Im Anhang des Buches schließt sich neben Quellennachweis, Bibliographie und Personenregister zudem eine kurz kommentierte Sammlung von übersetzten „Texten zur Archäologie“ an. Äquivalent zu den Hauptkapiteln reichen die Beiträge von einer Schrift Chaemweses, dem Sohn Ramses II., über die Entdeckung der Statue des Ka-wab vom Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. bis zu Jacques Boucher de Perthes‘ geologischer Chronologie bezüglich der ersten Bewohner Galliens aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Der im besten Sinne populärwissenschaftlich verfasste Band bietet einer breiten Leserschaft eine kenntnisreiche und gewinnbringende Lektüre, die durch die qualitativ hochwertige Ausstattung mit zahlreichen, durchweg hervorragenden Bildern auch optisch zum Genuss wird. Konzeptuell-inhaltlich vermisst man hier jedoch eine bessere Vernetzung von Text und Bild. Auch wenn die Bilder mit erläuternden Unterschriften eine eigene visuelle Argumentationsstruktur innerhalb des Buches bilden, so wäre an den entsprechenden Textstellen zumindest ein direkter Bildverweis sehr hilfreich. Denn häufig müssen die teilweise auf anderen Seiten befindlichen Darstellungen zunächst gesucht oder inhaltlich überhaupt erst an verschiedenen Stellen mit den jeweiligen Abschnitten in Verbindung gebracht werden. Zudem wäre gerade in einer Publikation, die das Objekt in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt, eine dem Textdiskurs adäquate und über illustrative Aspekte hinausgehende Bildanalyse wünschenswert – aber hier liegt vielleicht auch noch ein lohnendes Arbeitsfeld für die Kunstgeschichte.

06.01.2012
Sascha Winter
Schnapp, Alain. Die Entdeckung der Vergangenheit. Ursprünge und Abenteuer der Archäologie. Übersetzt aus dem Französischen: Wittenberg, Andreas. 424 S., 200 sw. u. fb. Abb., Gb. Klett-Cotta, Stuttgart 2010. EUR 48,00 CHF 67,90
ISBN 978-3-608-93359-8
 
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